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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Nah an jenem Kirchlein breitet sich der Friedhof aus, und auf ihm hatte man im Jahre 1818, den 21. Juli eine Kanzel erbaut, weil das Kirchlein viel zu klein war, die herbeigeströmten Menschenmassen aufzunehmen. Zahlreiche Gensd’armen, Tags vorher eingerückt, hielten in der Nähe des Friedhofes, einige auf dem Friedhofe selbst. Auch ein geöffnetes Grab gab es auf diesem, und neben dem Grabe stand ein Sarg, und in dem Sarge lag ein Mann mit gespaltenem Haupte, mit abgehauenen Händen und abgehauenen Füßen. Er lag auf dem Rücken, und darum konnte Niemand die Stiche sehen, die durch den Rücken dem Manne in den Leib gegangen waren. Ich aber hatte sie zwei Tage zuvor gesehen, als sein Weib und seine fünf unerzogenen Kinder jammernd den verstümmelten Leichnam umklammerten. Dieses Bild wiederholte sich auch heute an dem Sarge des Unglücklichen.

Und nicht nur sein Weib und seine Kinder weinten. Denn der Mann, der vor uns im Sarge lag, ein armer Häusler aus dem benachbarten Orte Naundorf, galt weit und breit für einen Ehrenmann, für fleißig, bescheiden in seiner Armuth doch ringend, das zu verdienen, was für sein Hüttenleben und die Familie Bedarf war. Dieses Zeugniß gaben ihm nicht nur Alle, die ihn kannten; auch der Pfarrer von Altenhof – so heißt das Dorf, wo das Kirchlein heute noch steht – auch der Pfarrer, der damals die Feldkanzel bestieg und eine lange Leichenpredigt hielt, gab ihm dieses Zeugniß.

Der Pfarrer ließ die sogenannte Leichenpredigt drucken und, was das Beste dabei war, zur Unterstützung der armen Familie verkaufen. Die Predigt liegt, indem ich diese Zeilen schreibe, vor mir, und sie mag wenigstens für den einen oder den anderen Zweifler das feststellen, was ich oben über den verstümmelten Leichnam sagte. Auf der fünften Seite der Predigt heißt es: „Wollte Gott, es wäre blos eine erdichtete Nachricht – doch nein, Menschen, gleich reißenden Thieren, haben nicht nur das Blut eines ihrer unschuldigen Mitbrüder vergossen, sondern ihm auch Hände und Füße abgehauen und seinen Kopf zerspalten.“ – Die Predigt ergeht sich über den Text: 1. Mos. 37. Vers 33. „Ein böses Thier hat Joseph gefressen; ein reißend Thier hat Joseph zerrissen.“ Daraus hätte sich Etwas machen lassen. Der gute Pastor steifte sich aber allzusehr auf „den herrlichen tugendhaften Joseph“, der doch, wie schon Seume sagt, ein richtiger „Kornwucherer“ war, was ja Jeder, der tiefer in jenen antiken Getreidebörseschwindel blickt, bestätigen muß.

Lassen wir das. Die Predigt war zu Ende; der Sarg wurde versenkt; die Nachmittagssonne warf noch ihren Abschiedsgruß auf ihn und den Todten, und Hunderte umdrängten das Grab und grüßten auch noch mit einer Handvoll Erde. –

Auch ich that es und wand mich dann mit Mühe durch die Menschenmenge, welche sich nur langsam zerstreute, obgleich die Gensd’armen wiederholt zum Weggehen mahnten. Vor dem Kirchhofe bildeten sich verschiedene Gruppen, in denen man sich ziemlich ungehalten darüber aussprach, daß heute noch Cavallerie in die umliegenden Dörfer einrücken solle, da die Bauern an der ganzen Sache doch unschuldig wären.

„Räsonnirt nicht!“ rief ein hinzutretender Gensd’arm in solch eine laute Gruppe hinein. „Es wird sich schon zeigen, ob Ihr unschuldig an der Sache seid. Liefert nur erst den Häckerlingsschneider aus, der Euch lange Abende hindurch mit seinen Vorlesungen, Predigten und Offenbarungen die Köpfe verdreht hat! Warum versteckt Ihr den Kerl?“

„Ein Kerl ist er nicht!“ schnatterte laut eine alte Frau, „er in ein ehrlicher Mensch; er schneidet am Tage fleißig sein Stroh, und wenn er am Abende hier und da Gottes Wort predigt, da geht er ganz nach der Bibel, wie der Pastor. Wenn aber der Pastor kein Kerl ist, so ist der Häckerlingsschneider auch kein Kerl.“

Viele lächelten der Rednerin Beifall zu und zwickerten mit den Augen, daß sie fortfahren solle.

Das gefiel der alten Frau, und sie sprach ruhig weiter: „Und das glaubt nur, Herr Gensd’arm, der Häckerlingsschneider macht’s gewiß oft besser, als der Pastor. Das würdet Ihr auch sagen, Herr Gensd’arm, wenn Ihr seine Predigten hörtet. Und Gottes Wort bleibt Gottes Wort, ob’s der Pastor in der Kirche oder der Häckerlingsschneider in der Bauernstube redet. Und noch dazu – der hat kein Pfarrgut, kein Holz, keinen Decem, der ist arm, wie es Jesus war, und wenn der Herr Jesus kein Kerl war, so ist auch der Häckerlingsschneider kein Kerl. Und nun wißt Ihr’s, Herr Gensd’arm.“

Es schien, als fänden diese Worte einen ernsten Nachhall in dem Gemüthe der Umstehenden. Man verhielt sich schweigend, nur eine stille Bewegung ging durch den Haufen der Bauersleute. Der Gensd’arm stutzte; er erkannte die starke Anhänglichkeit des ganzen Haufens an den Häckerlingsschneider und fragte die geschwätzige Frau: „Alte Hexe, wie heißt Ihr?“

Die Alte machte sich schnell aus dem Staube, ohne Antwort zu geben. Der ganze Trupp löste sich auf, und ob auch der Gensd’arm ihnen einige Schritte nachging und nochmals laut nach dem Namen der alten Frau fragte, er erhielt keine Antwort. Die Leute schritten schnell nach verschiedenen Richtungen auseinander; sie verriethen die Frau nicht, die man in Altenhof und Umgegend nur die „alte Müllerchristel“ nannte.

Ich mußte diese Scene erwähnen, weil in ihr die Stimmung sich abspiegelt, welche weithin auf vielen Dörfern für den Häckerlingsschneider vorherrschend war. Und nicht nur unter den Unbemittelten, auch unter den wohlhabenden Landwirthen gab es für den Häckerlingsschneider Johann Gottlieb Kloß starke Sympathien. Wir werden dem Manne näher treten, indem wir das grausige Blutbild, von welchem wir ein Stück schon sahen, nun weiter aufrollen. –

Es war am 19. Juli des Jahres 1818, also zwei Tage vor der erwähnten Kirchhofsscene und gerade an einem prachtvollen Sonntagsnachmittage, als ich in meiner Geburtsstadt Leisnig im hohen Grase eines kleinen, aber reizend gelegenen Gartens saß. Außer mir befand sich eine Kegelgesellschaft im Garten, um die ich mich nicht kümmerte, weil in mir eine verzeihliche Verstimmung lag. Ich war nämlich damals Obersecundaner auf der alten Kloster- oder Fürstenschule zu Grimma. Genau mit diesem Sonntage schlossen die Ferien, welche ich in meiner Heimath verlebt hatte, und das eben verstimmte mich. Alle Einrichtungen waren damals auf der Grimmaschen Fürstenschule noch strengklösterlich; im ganzen Jahre gab es nur vierzehn freie Tage, wo man die Zelle verlassen und daheim sein, oder einige Meilen weit hineinwandern konnte in die Welt. Diese vierzehn freien, schönen Tage waren nun abermals auf ein ganzes Jahr dahin. Mein Bündel lag schon geschnürt, nur ein Buch hatte ich noch nicht eingepackt; ich las darin, als ich im hohen Grase des Gartens saß, und suchte aus ihm frischen Muth zu schöpfen für den neuen Eintritt in die klösterliche Zelle. Das wollte mir nicht gelingen. Ich las und las, aber immer schwirrte mir lockend der Wunsch durch den Kopf: könnte ich doch morgen, statt in das alte Kloster zurück zu müssen, weit hinaus in die schöne Welt! – Das Buch, in welchem ich las, war „Seume’s Spaziergang nach Syrakus“.

Plötzlich wurde ich aus meinem Gedankenzuge herausgerissen, denn mehrere Sonntagsspaziergänger riefen durch die offen stehende Gartenthür: „Wisset Ihr’s schon? in der Mühle zu Beiersdorf hat der Häckerlingsschneider einen Mann geopfert. Boten sind herein in’s Amt; man sucht die Gerichtspersonen. Der Amtswachmeister ist schon mit den Ketten fort. Wir wollen eben auch hinaus.“

Ich klappte mein Buch zu; die Kegelgesellschaft zerstäubte. Alles machte sich auf der Weg nach der Beiersdorfer Mühle, eine Stunde von Leisnig, nicht weit von Altenhof gelegen, wo jenes Kirchlein steht. Bald war ich drüben über der Mulde bei den Schaaren, die nach der Mühle zogen. Da wurde nun manche Rede, manches Urtheil laut. Bald hieß es: „Der Häckerlingsschneider Kloß hat’s gethan, er selbst.“ – Ein Anderer rief: „Gewiß nicht; ich kenne den Mann; so etwas thut er nicht, und zu solcher That fordert er auch nicht auf. Ich habe ihn einige Male gehört, wenn er predigte.“ – Und wiederum ein Anderer meinte: „Nun, wenn er es selbst nicht that, so haben es die Kloßianer gethan.“

„Kloßianer“ hießen nämlich schon seit einigen Jahren die Anhänger des Häckerlingsschneiders Kloß, überhaupt Alle, die seine Predigten oder, wie er sie selbst nannte, seine „Vermahnungen“ besuchten.

Als wir bei der Mühle ankamen, war die Sonne untergegangen. Der Juli-Abend, hell genug, um Alles erkennen zu lassen, breitete sich aus auf die Felder, wo hier und da die

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