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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

zu treten, und als wir gehorchten, nahm sie Margarethens Hand und legte sie in die meine, dann faltete sie ihre Hände um den Fliederzweig, den die Enkelin auf ihr Bett niedergelegt hatte, und ein Ausdruck tiefen Friedens breitete sich über ihr Antlitz; sie athmete noch einmal tief und schloß die Augen zum letzten Schlaf. Wir legten die Blüthen in ihren Sarg.

An dem Tage, da wir sie zur Ruhe bestatteten, erhielt ich eine Todesbotschaft aus der Heimath: der alte Hartlieb war nach kurzem Krankenlager gestorben, fast zu derselben Stunde wie Margarethens Großmutter. In seinem Testament hatte er mich zu seinem alleinigen Erben eingesetzt. So war nun nach jeder Seite hin für unsere Zukunft gesorgt; ich ließ mich in Wiesenheim nieder und führte meine Margareth heim. Muß ich noch hinzufügen, daß ich Beides nie bereut habe?

Eines Abends, als ich von meinen Krankenbesuchen nach Hause kam, fand ich meine süße kleine Frau in Thränen; ein paar beschriebene Blätter lagen in ihrem Schooße.

„Sieh her, Franz, was ich beim Aufräumen in Deines Pathen Schreibtisch fand!“

War es ein Tagebuch? War es ein Brief? Doch an wen hätte der alte Hartlieb wohl schreiben sollen? Ich hatte nie von Verwandten, nie von einem vertrauten Freunde gehört.

Ich las.

„Es ist ein wunderbar schöner Frühlingsabend,“ so stand auf den vergilbten Blättern geschrieben; „ich sitze am geöffneten Fenster und blicke in den Garten hinaus, wie es seit fünfzig Jahren und länger wohl meine liebe Gewohnheit ist. Drüben, hinter Nachbars Dach, taucht eben der Mond auf – ich sage, auch aus alter Gewohnheit noch, ‚Nachbars Dach‘, obwohl das Haus längst schon mir gehört und die Leute schon aufgehört haben, sich darüber zu wundern, daß ich es gekauft habe, um es leer stehen zu lassen, und es nicht einmal vermiethen will. Der Duft des Flieders zieht mit dem Abendwinde in mein Stübchen, und in dem Gesträuche schlägt die Nachtigall, aber so süß duftet der Flieder nicht mehr, so schmelzend singt die Nachtigall nicht wie in meiner Jugend, da sie in Nachbars Garten ihr Nest baute und Nachbars Sabine ihr zuhörte. Es ist wohl auch längst nicht mehr dieselbe Nachtigall, die uns Beiden sang; es ist ja nur dem Menschen bestimmt, daß er seine Jugend so lange überleben soll.

Ich bin ein alter, alter Mann. Es ist mir zuweilen, als sei ich eigentlich gar niemals jung gewesen, als sei ich schon als Greis zur Welt gekommen in derselben Stunde, in der meine junge Mutter starb. Ich glaube, ich habe in der Wiege schon recht alt und unkindlich ausgesehen, und meine Amme hätte mich vielleicht damals schon den alten Hartlieb genannt, wenn sie diese Bezeichnung nicht für meinen Vater, den Herrn Bürgermeister, gebraucht hätte.

Von meinen ersten Kinderjahren weiß ich nichts; ich hatte ja nicht, wie andere glückliche Kinder, eine Mutter, welche die ersten Regungen des Menschengeistes bewacht, sich der ersten Offenbarungen des Verstandes freut. Meine frühesten, mir erinnerlichen Gedanken beschäftigten sich mit der Frage, warum wohl Apothekers jüngster Sohn, der doch mehrere Jahre älter war als ich, von seinen Eltern Fränzchen genannt wurde, während mich Niemand anders als Franz nannte. Ich glaube, wenn es meinen Pathen eingefallen wäre, mir anstatt dieses kurzen den längsten aller Kalendernamen zu geben, so würde doch mein Vater niemals an eine Abkürzung oder einen Liebesnamen, wie sie Kinder so gern haben, gedacht haben. Ich habe nie an seiner väterlichen Zuneigung gezweifelt, aber er war ein kalter, ernster Mann, der auch in seinem Hause nicht den Bürgermeister verleugnete.

Meine Schulcameraden kümmerten sich wenig um meinen Vornamen; für sie war ich vom ersten Tage an der alte Hartlieb, da ich mich nicht an ihren lärmenden Spielen betheiligte, theils weil mir die Lust dazu nicht angeboren war, theils auch weil es mein Vater mir als für mich unschicklich verboten hatte. Und so ist denn der Name ‚der alte Hartlieb‘ an mir haften geblieben für mein ganzes Leben, jetzt freilich führe ich ihn schon seit vielen Jahren mit Recht.

Ich war zwölf Jahre alt, als unsere junge Nachbarin, Frau Anna Dreßler, starb, die Einzige, die zuweilen freundlich mein Haar gestreichelt hatte. Sie ließ ein kleines Mädchen zurück, das eben die ersten Versuche zum Gehen machte. Von dieser Zeit ab war ich oft in Nachbars Hause und bewachte mit ängstlicher Sorgfalt die zaghaften Schritte der kleinen Sabine. Ich dachte es freilich damals nicht, daß eben diese zarten Füßchen später so achtlos mein Herz zertreten würden.

Aber warum schreibe ich das nieder? Es ist doch nur eine Geschichte, wie sie gar oft vorfällt, wenn auch Jeder denkt, so groß wie sein Schmerz sei kein anderer unter dem Himmel.

Sie hing an mir bald mehr als an ihrem eigenen Vater, und die ersten zusammenhängenden Worte, die sie sprach, waren: ‚Alter Hartlieb‘, wie die Leute es ihr, mich zu necken, vorgesprochen hatten. Ich sehe es noch oft in meinen Träumen bei Tage und bei Nacht vor mir, das hübsche braunäugige Kind, wie es lachte, wenn es mich kommen sah, und mir die Arme entgegenstreckte.

Die Jahre vergingen. Sabine wurde je älter, desto hübscher; wir spielten zusammen zwischen den Fliederbüschen ihres Gartens. Und die Nachbarn wußten es schon ganz bestimmt, daß der Franz und die Sabine ein Paar werden würden, und unsere Väter sprachen darüber, ob sie alsdann den Zaun, der ihre Gärten trennte, ganz fortnehmen oder nur eine Thür hindurch brechen sollten. Für mich war Beides nicht nöthig; ich sprang allabendlich darüber hinweg.

Ich hatte nun die Schule verlassen, und mein heißester Wunsch war, in eine größere Stadt zu kommen und etwas Rechtes zu lernen, ehe ich einen eigenen Hausstand gründete. Oder wenn ich gar hätte Reisen machen können, über Berge und Flüsse, und am liebsten wohl gar über das Meer! Aber davon wollte mein Vater nichts hören; er war ja auch nie aus unserer guten kleinen Stadt hinausgekommen und hatte es doch bis zum Bürgermeister gebracht, und höher hinauf konnte doch selbst mein Ehrgeiz nicht gehen. Er hat es wohl gut gemeint, mein braver Vater, aber vielleicht wäre es mir doch besser gewesen, er hätte meinen Bitten nachgegeben.

Und nun gar die Sabine! Wenn ich ihr von meinen Wünschen und Plänen sprach, da schlang sie ihre Arme um meinen Hals und sagte mit Thränen in den Augen:

‚Aber, lieber alter Franz, was soll aus Deiner Sabine werden, wenn Du fortgehst?‘

Wenn es sich um mein Lebensglück gehandelt, hätte ich doch ihre schönen braunen Augen nicht trüben mögen, und so blieb ich und tröstete mich mit dem Gedanken an das Glück, das mich erwartete, wenn Sabine erst meine Frau sein würde. Aber ihr von meiner Liebe zu sagen, fiel mir nicht ein; sie hat wohl auch niemals erfahren, wie sehr sie mir an’s Herz gewachsen war.

Sie war nun eine Jungfrau, so blühend und schön, wie unser Städtchen keine zweite aufzuweisen hatte, und ich bekleidete ein kleines Amt in der Stadt und dachte nun ernstlich daran, um sie zu freien. Ich war schon öfter, mit einem Ringe meiner verstorbenen Mutter in der Tasche, zu ihr gegangen in der Absicht, ihn ihr an den Finger zu stecken und dabei mein Anliegen in wohlgesetzten Wortes vorzubringen, aber immer verließ mich der Muth ihren schelmischen Kinderaugen gegenüber, und ich kam mit dem Ringe in der Tasche wieder heim. Ich trage ihn jetzt an meinem kleinen Finger; er ist mit der Zeit sehr dünn geworden; aber ich denke, er wird wohl noch so lange zusammenhalten, bis man ihn mir in den Sarg mitgiebt.

In dieser Zeit erkrankte mein Vater plötzlich so heftig, daß ich alle anderen Gedanken um seinetwillen aufgeben mußte. Nach einem mehrwöchentlichen, schmerzhaften Krankenlager erlöste ihn ein sanfter Tod. Ich hatte ihn aufrichtig verehrt und betrauerte ihn nun, wie es sich für einen Sohn geziemt.

In der ganzen Zeit seit jener Erkrankung hatte ich Sabinen nur ein einziges Mal, und nur flüchtig, gesehen, als ich nach einer Nachtwache in den Garten ging, um mich zu erfrischen. Ihr Vater kam öfter zu uns, und von diesem hörte ich, daß in sein Haus Besuch gekommen sei, ein junger Vetter, ein studirter, sehr vornehmer Herr. Ich hörte kaum danach hin, oder doch nur mit dem Gedanken, daß wir den jungen Herrn Vetter, wenn er nicht allzu vornehm wäre, vielleicht zur Hochzeit einladen könnten.

Doch war jetzt, so bald nach meines Vaters Tode, nicht die Zeit, an Werben und Freien zu denken; ich wollte auch nicht zu Sabinen gehen, so lange der fremde Besuch in ihrem Hause

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_834.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)