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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


ihrem Ausspruche gab sie das vollste, schönste Gewicht, indem sie sich bereit erklärte, die Begabte selber heranzubilden. Nun kam eine herrliche Zeit für die junge Künstlerin, die Zeit des allseitigen Lernens, Uebens, Vorbereitens für den glühend ergriffenen Beruf. Hatte sie doch das Glück, von einem Vater geleitet zu sein, der nicht darauf bedacht war, seine Tochter nach möglichst bald absolvirter äußerlicher Einübung dem ungewissen Glücke und zufälligen Erfolge zu überlassen; der vielmehr wußte, daß nur in einer umfassenden und gründlichen Bildung des Geistes und Gemüthes der Talisman ruht, der die werthvolle Entfaltung des Talentes und dauernden Erfolg sichert, und er scheute kein Opfer, um der Tochter den allseitigen Unterricht in Geschichts- und Sprachkunde, Verstandes- und Stilübungen angedeihen zu lassen.

Die junge Dame sollte wohl gewappnet in Kunst und Welt eintreten. Frau Crelinger ihrerseits betrieb den mimischen Unterricht ebenfalls in der für eine so talentvolle Schülerin entsprechendsten Weise. Die Meisterin lehrte bühnengemäß sprechen und recitiren; für Stellung und Mienenspiel verwies sie auf Statuen und Gemälde, und leitete dazu an, auf selbstständige Art den Blick zu üben, das Anwendbare und Wirkungsvolle zu finden und sich anzueignen. Daneben wurde auch dem Sprüchwort gefolgt, daß Probiren über Studiren geht, und in dem Liebhabertheater „Concordia“, das der Musenverehrung des ästhetischen Butterhändlers Sixtus sein Dasein verdankte, waltete unsere Kunstnovize als Heldin und als Regisseur zugleich. Mit der elastischen Unternehmungslust der Jugend wurden oft Parforce-Stückchen geleistet. Da sprach sie an demselben Tage erst in der „Concordia“ den Prolog, spielte darauf eine der kleinen Rollen im Hoftheater, mit denen die freundliche Protection des Intendanten Herrn von Hülsen sie betraute, und eilte dann zurück in die Blumenstraße, um dort als Hauptperson im Schlußstücke zu brilliren.

Nach beendigtem Schulunterricht eröffnete ihr ein Engagement in Stettin die Carrière. Aber vorerst drohte ein Nervenfieber den übereifrigen Anfang gleich zum Ende zu machen. Genesen und nothdürftig gekräftigt, war die junge Künstlerin nicht mehr abzuhalten, in Begleitung der treuen Mutter ihrem Wirkungskreise entgegen zu eilen. Sie traf es gut. Das ursprüngliche Feuer ihres Spiels, die Jugendblüthe und die schlanke Gestalt ersetzten, was noch an Vollendung fehlen mochte, und gewannen ihr die Gunst des Publicums und die besondere Aufmerksamkeit des Directors Hein. Dieser kunstverständige Mann, der, ein zweiter Mieding, gegenwärtig an der Berliner Hofbühne mit poetischem Sinne und malerischem Geschmacke der Scenerie waltet, widmete ihr Interesse und belehrende Anweisung. Der Ruf des aufstrebenden Talents drang schon nach fünf Monaten bis nach Hannover und erwirkte unserer Künstlerin eine Stellung am dortigen Hoftheater, wo sie die „Königin von sechszehn Jahren“, den „Pariser Taugenichts“ und das ganze Fach spielte, in dem damals die Goßmann unübertroffen glänzte. Aber das begeisternde Vorbild der Seebach reizte immer heftiger in ihr das Verlangen nach gleicher Größe im tragischen Gebiete. Ihr, die ja der Enthusiasmus für classische Poesie zur Bühne geführt hatte, wurde die enge Beschränkung auf das naive Fach bald unerträglich. Da stand ihr wieder ihr gutes Glück bei. Ohne ihr Zuthun empfahl Frau Blumauer sie nach Dresden. Und gleich nach ihrem ersten Auftreten als Gretchen erkannte Herr von Lüttichau die Acquisition, die für das Hoftheater zu machen war. Nun trat sie als erste Liebhaberin und jüngere Heldin unbeschränkt in den Rollenkreis ein, welchen Frau Bayer-Bürk aus eigenem Entschlusse soeben aufgegeben hatte. Auch das kühne Wagniß, nach so kurzer Vorübung einer solch bewährten Meisterin zu folgen, erhöhte nur die Lust und Liebe, für ihren Beruf in die Schranken zu treten. Ihre Louise Millerin, Julia Capulet und Donna Diana vermehrten die Gunst des Publicums und erwarben ihr das Interesse Dawison's. Dieser machte sie mit Madame Sontag, der Mutter der berühmten Sängerin, bekannt, die einst als tragische Liebhaberin und Heldin eine Zierde des Prager Theaters gewesen und nun in Zurückgezogenheit lebte. Sie wurde der jungen Künstlerin bald eine vortreffliche Lehrerin und Freundin, die, ohne das freie Talent zu beengen, mit liebevollem Rathe es zu klarer gediegener Reife veredelte.

Die rasche, vielseitige Entwickelung, die sie seither durchlaufen hat, die Höhe der Meisterschaft, zu der sie emporgestiegen, ist weit über Dresden hinaus durch ihre Gastvorstellungen bekannt geworden. Leipzig, Danzig, Königsberg, Magdeburg, Hamburg, Mannheim, Breslau, Prag, Zürich, Basel, neuestens Berlin (Nationaltheater) haben in ihr eine dramatische Darstellerin ersten Ranges von bedeutender tragischer Kraft und origineller Grazie der Komik kennen gelernt. In den meisten dieser Städte wurden bei ihrem Auftreten selbst weite Häuser bald zu eng, und der stete Abschiedsgruß war der Wunsch des Wiedersehens.

Was Pauline Ulrich in eigenster Weise vor allen anderen Künstlerinnen der Gegenwart bevorzugt erscheinen läßt, das ist die volle Harmonie der äußeren Mittel und der geistigen Begabung, mit welchem „Naturgeschenk sich ein unermüdliches Fortbildungsstreben vereinigt. An ihrer Wiege standen die Grazien, verschwenderisch zum Geben aufgelegt. Für imposantes Auftreten, wie für lieblich einnehmende Erscheinung, für das energische Geberden- wie für das feinste Mienenspiel ist sie in Schönheit der Gestalt und Züge reich ausgestattet. In einem eigenthümlichen Doppelschimmer der Hoheit und Anmuth, des Großartigen und Holdseligen, des Würdevollen und Graziösen leuchten ihre meisten Bühnenerscheinungen. Die Fülle und Anmuth ihrer Bewegungen hat sie durch sorgfältiges Studium zur vollendeten Plastik ausgebildet, die ihr zur zweiten, stilvollen Natur geworden. Dazu kommt ein Gedächtniß, das niemals irrt, der leichteste Redefluß, eine unverwüstliche Heiterkeit im Lustspiele, die stets die Kunstgrenze schön inne hält, scharfsinnige Klarheit der Auffassung, eine geistvolle Innigkeit und tiefdringender Ernst, womit sie in den tragischen Rollen immer eifriger nach dem erschöpfenden Ausdrucke ringt. Mit bewunderungswürdiger Virtuosität hat sie ihre Stimme, die ursprünglich von einseitigerem Umfange war, zu wirksamen tieferen Tönen ausgebildet und verfügt nun über eine weite, reiche Scala, wohlthuend im Milden und Lieblichen, im tragischen Aufschrei der Angst und des Entsetzens von ergreifender Kraft. Ihre eigensten Vorzüge, ihre vielseitige Gestaltungskraft, den Reichthum ihrer Verwandlungen, die Feinheit ihrer Nüancen und Details entfaltet sie im ganzen Umkreise des idealen Dramas (Iphigenie, Tasso etc.), des Schauspiels. Conversationsstücks und Lustspiels. Sie spielt die jungen Hausfrauen der harmlosen einactigen Lustspiele vom komischen ersten Eheverdrusse, die capriciösen geistreichen Frauen Bauernfeld's, die schelmischen, schnippischen, silbenstechenden Beatricen, die fromm aufgeblühten Liliengestalten wie Jolanthe, die überlegenen Intriguantinnen und glänzenden Teufelinnen, wie die Herzogin Marlborough und die Gräfin Clotilde – alle mit derselben kunstvollendeten Natur. Das Leuchtendste aber sind ihre Darstellungen weiblicher Vornehmheit. Mit derselben Sicherheit, wie Adolf Sonnenthal in Wien als Darsteller vornehmer Männerart, erscheint Pauline Ulrich als die erwählte Darstellerin aristokratischer Weiblichkeit. Unsere Künstlerin steht auf dem Gipfel ihres Ruhmes. Möge ihr Stern lange in seinem Vollglanze leuchten als eine der schönsten Zierden der gegenwärtigen deutschen Bühne!

J. St.




Ein Gang durch die Berliner Stadtvogtei.
Von Adolf Rutenberg.


Durch die Verhandlungen des Processes Arnim hat die Berliner Stadtvogtei ein weit über die Mauern der deutschen Reichshauptstadt hinausgehendes Interesse gewonnen, so daß einige Mittheilungen über diese Zwingburg des Verbrechens wohl zeitgemäß erscheinen dürften.

Im Herzen des alten Berlin, fast genau an jener Stelle, wo, den Ermittelungen unserer unermüdlichen Alterthumsforscher zufolge, die ersten Baracken des altwendischen Fischerdorfes gestanden haben, erhebt sich auf einem Terrain, dessen Flächeninhalt ungefähr dem des neuen Rathhauses gleichkommt, ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_046.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)