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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Die Väter schreiten steif und gravitätisch an der Seite ihrer herausgeputzten besseren Ehehälften einher, die Meerschaumpfeife im Munde, das große spanische Rohr in der Hand; daneben, dazwischen und vorüber das junge Volk; die jungen Mädchen, deren Kleid noch nicht das Pflaster streift, aber doch nur den feinen Knöchel sehen läßt, sperren die Gasse; sie kichern laut, moquiren sich über den Lehrer, flüstern sich prickelnde Schulnovellen zu und parodiren die älteren Schwestern, welche im vertraulichen Flüstern zu Zweien oder schmachtend am Arme des Galans einherziehen. Und heute giebt es gar viel zu erzählen, viel zu bekennen, viel zu bereuen. Die Gesichter sehen auch etwas übernächtig drein, denn gestern war großer Ball. Und was für ein Ball! Als ich den großen Saal des Curhauses betrat, rieb ich mir verwundert die Augen. Ist's Traum, ist's Wirklichkeit? Wieder flammten die Kerzen; wieder rauschten die verlockenden, berückenden Walzerrhythmen; wieder hüpften die kosenden Polkatöne, aber diesmal lustiger, strammer, pulsirender, frischer, als während der Saison, wo aus curgemäßen Gründen alle Töne gedämpft sind; wieder sah ich diese Toiletten, die im Sommer Furore gemacht, von dem schilfgrünen Kleide, welches die Nixengestalt der blonden Fee aus England umfloß, bis zum Feigenblatt der Wiener Gräfin, aber jetzt von rothbackigen, lebenslustigen, festbusigen Mädchengestalten getragen; denn Alles, was im Sommer Aufsehen macht, der kühnste Mantelwurf, die bizarrste Robe, die buntfarbigste Mantille, das längste Schleppkleid, das koketteste Hütchen und die wild romantische und grotesk-komische Frisur, all dies findet im Karlsbader Winter seine Doppelgänger und Copieen. Sie stehen freilich zum Original, wie der Bürstenabzug zum fertigen Druck, wie die Negative zum eigentlichen Bild, aber „sie sind“. Man macht gar außerordentliche Toilette. Und just die, welche während des Sommers die arbeitsamsten, die bescheidensten, die entsagendsten sind: die Brunnenmädchen, welche schon um sechs Uhr Morgens dem polnischen Juden mit den fettglänzenden Locken und der Marquise mit dem eleganten Rock den genesungsbrauenden Trank schöpfen, die Kaffeeheben, die diversen Fanny's, Anna's, Marie's, welche die „Verkehrten“, „Rechten“ credenzen und mit Grazie ihre sechs Kreuzer „Trinkgeld“ einstreichen: sie sind jetzt Allen voran. Man weiß wahrlich nicht, was mehr zu bewundern ist, wie sparsam diese Mädchen oder wie billig diese theuren Toiletten sind.

Sobald aber die ersten warmen Strahlen in's Thal fallen, findet der lange Winterfeiertag sein Ende. Die Tage werden länger, die Bierabende kürzer. Die Winterquartiere werden abgebrochen, die Parterre-Wohnungen geräumt und wieder zu Verkaufsläden herausstaffirt; mit Kind und Kegel schachtelt man sich in die letzten Räumlichkeiten ein. Die Wege werden wieder urbar gemacht, die Ruhebänke und die in Form von Tonnen freundlich winkenden Einsiedeleien in den Wäldern gepflanzt. Die Kastanienbäume der alten Wiese werden reglementsmäßig beschnitten, der Christus am Kreuzberge frisch lackirt; der heilige Nepomuk erhält ein neues Gewand, und unter den Eseln und Brunnenmädchen wird fürchterliche Musterung gehalten; die Colonnaden werden in Stand gesetzt, die städtischen Spritzen „behördlich geprüft“.

Da ist jetzt ein fortwährendes Hämmern, Sägen, Feilen, Rasseln, Hobeln; zwischen durch tönen süße Rossinische Musik, Straußische Walzerrhythmen und Wagner'sche Keulenschläge aus dem großen Saale des Curhauses, wo jetzt Labitzki von früh bis spät seine Mannschaft einexercirt. An die Bauten wird die letzte Feile gelegt; die verschiedenen Raphaels, Michel Angelos und Corregios pinseln und tünchen in ihren Ateliers auf offener Straße hier ein Haus, dort eine Schildertafel, und wie von den Küsten Spaniens der Duft der Orange dem Landenden schon von Weitem entgegenweht, so begrüßt jetzt der Firnißgestank den Ankommenden bereits am Bahnhofe. Die Badewirthe ziehen jetzt die Herrenröcke aus, und manch stolzer Senator, der in den Herbsttagen seinem Clärchen versprach, im Frühling „spanisch zu kommen“, drischt jetzt eigenhändig mit dem Rohre aus dem Lande der Hesperiden seine verstaubten Möbel aus. Die Hôtel-Omnibuse werden aus der Remise geholt; der Doctorenwagen wird frisch lackirt; die für die Saison bestimmten Beamten der Post und des Telegraphen treffen ein. Die Aerzte sind bereits wieder vollzählig; die Placate, welche freundlich melden: hier ist Wohnung zu vermiethen, bedecken in allen nur erdenklichen Formaten, in allen Farben und in allen Sprachen die Stadt. Der häusliche Krieg wird beigelegt angesichts des gemeinsamen patriotischen Kampfes gegen den Fremden; das Heirathen, Sterben und Schuldenzahlen wird auf den Herbst verschoben. Der Gemeinderath giebt heute seine letzte große Vorstellung, denn morgen ist der erste Mai, die feierliche Eröffnung der Saison.

Aus dem Aschenbrödel ist wieder die festgeschmückte Schöne geworden. Die Bade-Nymphe erscheint in glänzender Festtoilette; die Bauten sind eingestellt, die Hämmerschläge verstummt; die Forellen plätschern in den Speisekarten; es grünt und blüht, und die Stadt leuchtet vor Nettigkeit.

Es ist der erste Mai, der große Tag der Brunnenweihe, der Eröffnung der Saison. Diese Feier ist aber eine mehr innerliche als äußere und nur wenig prunkhaft. Während einst die attischen Brunnen mit Veilchen umrahmt wurden, holde Jungfrauen duftige Kränze in die eurymenische Quelle in Thessalien warfen, Petrarca von den Frauen Kölns zu erzählen weiß, wie sie blumenumgürtet zum Rheine ziehen, in Sicilien Nymphenfeste mit bacchischen Tänzen aufgeführt wurden: beschränkt sich die Brunnenweihe der Karlsbader Quellen, gleich der aller übrigen böhmischen, auf die schwarzbefrackte Anwesenheit der jüngsten noch ungeweihten Quellenpriester – die alten haben es, Gott sei Dank! nicht mehr nöthig – unter Vortragung des hochwürdigen Bürgermeisters und Hinzutritt einiger reizenden Brunnenmädchen, welche aus „curgemäßen Rücksichten“ in den böhmischen Badeorten von Matronen dargestellt werden.

Ist die Quelle mit dem saisonmäßigen grünen Gemüse bekränzt und sind die feierlichen Worte gesprochen, so erdröhnen die Salven der Bürgerwehr; die Glocken läuten – die Saison ist eröffnet, das heißt, Jeder, ohne Unterschied des Alters, der Nationalität und der Confession muß von jetzt an die Curtaxe zahlen.

Julius Walter.




Vor dem Hause der Louise Lateau.


„Herrgott, wie geht man mit Deiner Menschheit um!“ So werden Tausende hier, vor dem Hause der Louise Lateau, dem Landmädchen mit den blutenden Wundenmaalen des Gekreuzigten in dem Dorfe Bois d'Haine, von Zorn und Trauer erfüllt, mit uns ausrufen, während tausend Andere theils in der Blindheit eines Wunderglaubens hier eine neue Gewähr ihrer Seligkeit suchen, theils im stillen Triumphe einen neuen Sieg der Priestermacht über deren Widersacher ausbeuten, und wiederum Tausende bald in Hohn und Spott ausbrechen über jedes religiöse Gefühl, bald mit kalter Verachtung oder lächelnder Gleichgültigkeit an der ganzen Bewegung auf dem gefährlichen Kampffelde der Gegenwart vorübergehen.

Die Bewegung ist da, und die Zeit ist vorbei, wo die stolze Aufklärung in hochschwebendem Selbstgefühle auf solche Zeugnisse noch immer herrschender Finsternis hinabsehen konnte, wie auf unschädlich Vorübergehendes; die Zeit ist vorbei, wo eine vornehme Duldung geübt werden durfte gegen die Umtriebe frommer List und selbstsüchtiger Heiligkeit. Es ist kein gesellschaftliches Flüstern und kein Zeitungsgeplänkel mehr, das neben interessanten Principiendebatten die Harmlosigkeiten des persönlichen Verkehrs nicht beeinträchtigt. Nein, die Kriegserklärung ist laut verkündet; die Parteien stehen in festen Lagern; der Kampf tobt in der ganzen Schlachtlinie, und der Haß heißt jede Kriegslist willkommen.

Ein solche Kriegslist im Kampfe der Ultramontanen gegen den Staat und die Cultur der Gegenwart und vor Allem gegen den gefürchtetsten Gegner der Priestergewalt des Unfehlbaren, das deutsche Reich und den deutschen Geist, ist auch dieses Mädchen von Bois d'Haine mit ihren blutenden Wundenmaalen, und gegen die Glorie dieses gefeierten Wahns giebt es keine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_084.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)