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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Kaiser Wilhelm vor dem Beginn der Parade.
Aus den „Berliner Straßenbildern“ von H. Lüders.


Gottes Segen möge das Gebäude unter Dach und Fach bringen! Seine Vollendung bedeutet für Tausende Glück und Wiedergeburt, seine vorzeitige Zertrümmerung würde Niemand zum Segen gereichen. Es ist eine neue Institution, und sie wird der Erfahrung ihr Lehrgeld bezahlen müssen. Was auch die zünftigen Versicherungsmänner, die Feinde und Neider der Pensionsanstalt sagen mögen – Aehnliches war noch nicht da, und das hier Geschaffene kann also nicht nach den hergebrachten Maßstäben gemessen werden. Wenn auch nicht alle Hoffnungen, die in rosiger Glorie ausstrahlten, sich erfüllen sollten – aus einer Hoffnung ist schon eine Errungenschaft geworden: die deutschen Schauspieler haben sich endlich einmal selbst gefunden; das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist in ihnen wach geworden, und sie sind im Begriffe, innerhalb des deutschen Bürgerthums ohne Ausnahme selbst gleichberechtigte und tüchtige Staatsbürger zu werden. Daß ihnen diese Errungenschaft nicht wieder geraubt werde, dafür mögen sie selbst in erster Linie sorgen. Aber auch das wohlwollende Interesse aller Freunde der deutschen Bühne darf und wird ihnen dazu nicht fehlen. Für gute Dinge kann man immer ein Herz haben, und es ist fürwahr ein gutes Ding um die „Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger“. –

Arno Hempel.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.[1]
1. Im Elternhaus.

Ich könnte es heute noch zeichnen von den Kellerräumen an, in welchen der spärliche Wein für den Vater und der reichliche Most für die Kinder und Dienstboten lag, bis zum Taubenschlag, vor dessen Brettern wir Knaben stundenlang standen, um dem Treiben unserer Lieblinge durch die Ritzen und Spaltlöcher zuzuschauen, von der feuchten, lichtlosen Knechtekammer an, in welcher man nach den heutigen Begriffen von Humanität keinem Sträfling zumuthen würde, eine Nacht zuzubringen, bis zu dem lichten, aussichtreichen Studirzimmer des Vaters, in welchem wir Latein lernten – so lebhaft steht es mir nach dreißig, vierzig Jahren noch vor der Erinnerung, das alte Pfarrhaus in A., das längst vom Erdboden verschwunden ist, um einem moderneren und bequemeren Platz zu machen. Es lag so still und freundlich, so sonnig und idyllisch ein wenig abseits vom Dorfe, inmitten von Obst- und Blumengärten, nach drei Seiten offen gegen Wiesen und Felder, an deren Ende das Auge mit Behagen ausruhte auf dem nahen bewaldeten Höhenzug der schwäbischen Alb mit der weithin sichtbaren Capelle.

Das Dorf trug den einfach ländlichen Charakter einer fast ausschließlich mit Ackerbau beschäftigten Bevölkerung, erhielt aber doch einen etwas rascheren Puls durch den zahlreichen Fremdenverkehr, den es vermittelte. Zweimal am Tage hielt der Postwagen an und wechselte die Pferde. Wenn er des Nachts von der Schweiz herkam, unterließ es der Postillon selten, am Fuße der Steige, welche am Saume des Pfarrgartens vorbei auf die Höhe des Dorfes führte, sein Stücklein zu blasen, und die Töne drangen so heimelig durch die Stille der Nacht in’s Herz. Die nur eine Stunde entfernte Oberamtsstadt brachte vielfaches Leben. Alle Sonntage fuhren die „Honoratioren“ mit ihren Familien herüber, und ließen ihre Acten in der renommirten Küche „Zur Krone“ ausstäuben. Auch mochte das Bier, für welches zwei Brauereien im Orte bestanden, einen guten Ruf gehabt haben. Wenigstens konnte es der lustige und witzige Prälat Osiander nicht genug rühmen, wenn er auf seinen Kirchen- und Schulvisitationen in die Gegend kam und bei dem Vater, seinem Studiengenossen und intimen Freunde, jedes Mal für einige Tage abstieg. Es gehört zu meinen lebhaftesten Jugenderinnerungen, wie er eines Sonntag-Morgens, als eben die Glocken einläuteten und Papa schon im Kirchenrock stand, angefahren kam: „Was hast Du für einen Text? Gieb mir den Rock her! Ich will für Dich predigen.“ Er wollte nicht umsonst Professor der Eloquenz am Gymnasium in Stuttgart gewesen sein. Als er später als Visitator in die Lateinschule in S. kam, in welche ich unterdessen eingerückt war, gab er mir, weil ich mit der lateinischen Aufgabe früher fertig war, als die Andern, als Thema zu einem schriftlichen Aufsatz im Deutschen – „das Bier in A.“, worüber ich begreiflich wenig zu sagen wußte. Auch den katholischen Pfarrer des Nachbarortes sehe ich heute noch vor mir, wenn er an jenem Abend, an dem es das

  1. Mit obigem Artikel eröffnen wir eine Reihe bedeutsamer Aufzeichnungen eines gefeierten Kanzelredners und Schriftstellers, der in den Kreisen des deutschen Protestantenvereins als einer der entschiedensten Vertreter der freisinnigen Richtung eine hervorragende Stellung einnimmt. Der Verfasser beabsichtigt, den großen Geisteskampf zwischen Autorität und Freiheit zu schildern, wie er in den Lebens- und Bildungsgängen eines Theologen der letzten Jahrzehnte sich ausgeprägt und widergespiegelt hat.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_097.jpg&oldid=- (Version vom 6.9.2019)