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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Ludwig Dessoir.

Am kältesten Tage dieses Winters, am 2. Januar 1875, wurde des unsterblichen Künstlers sterbliche Hülle der mütterlichen Erde übergeben. Auf dem Matthäikirchhofe bei Berlin, dort, wo die Brüder Grimm, Diesterweg und so Mancher von unvergänglichem Namen ruht, wurde auch ihm gebettet zu ewigem Schlummer. Nur seine Söhne und ein sehr kleiner Kreis von Kunstgenossen und Freunden warf ihm eine Hand voll Erde hinab auf den lorbeerbekränzten Sarg. Der bekannte Prediger Dr. Sydow, welcher bereits im Trauerhause eine geistvolle Leichenrede gehalten, sprach ein kurzes Gebet an der offenen Gruft, und schnell beendeten die Todtengräber ihr Werk.

Im herrlichsten Winterschmucke prangte die Natur. Mit blendend weißem, fußhohem Schnee waren die Felder bedeckt, und die dichtbereisten Bäume glitzerten wundervoll in den Strahlen der Nachmittagssonne. Von dem Trauerhause in der

Ludwig Dessoir.
Nach einer Photographie.

Bendlerstraße bewegte sich der Leichenzug die Potsdamerstraße entlang, vorbei am botanischen Garten bis gegen Schöneberg. So empfindlich auch die grimmige Kälte den Leidtragenden auf dem langen Wege wurde, mit Entzücken weidete sich jedes Auge an der winterlichen Landschaft. Und jenen tiefen, beseligenden Frieden, welcher eine gleichsam erstorbene Natur bedeckte – neidlos gönnte ihn Jeder dem Heimgegangenen Meister, da ja auch er geistig schon längst erstorben war und sich innigst gesehnt hatte nach ewigem Frieden. War ihm doch überdies der Tod nicht in seiner schreckenden, sondern in seiner freundlichsten Gestalt genaht. Ohne vorhergegangene Krankheit, nach einem kräftigen und ruhigen Schlafe hatte er ihn durch plötzlichen Herz- und Lungenschlag aus den warmen Armen der Liebe kampf- und schmerzlos in seine kalten Arme genommen.

Am 15. December 1810 wurde Ludwig Dessoir zu Posen geboren. Am 30. December 1874, früh vier Uhr, ist er zu Berlin gestorben. Mit seinem großen Vorgänger Ludwig Devrient theilte er merkwürdiger Weise denselben Geburts- und Todestag. Ich habe schon früher in meinen Silhouetten „Berliner Hofschauspieler“ und in einem Aufsatze der „Vossischen Zeitung“, welcher erst ganz kürzlich erschien, sowohl Dessoir’s künstlerische Bedeutung eingehend gewürdigt, wie auch sein Leben ziemlich ausführlich beschrieben. Deshalb will ich hier weder eine kritische Studie, noch eine eigentliche biographische Skizze bieten, sondern nur ein schlichtes Wort der Erinnerung über den Heimgegangenen Freund sprechen, und Einzelnes, welches bisher unbekannt war, aus seinem Leben veröffentlichen.

Neben Ludwig Dessoir wuchsen im Hause der Eltern, welche dem Kaufmannsstande angehörten, noch vier Geschwister auf, zwei Brüder und zwei Schwestern. Alle fünf Kinder widmeten sich später der Bühne. Von den Schwestern verheirathete eine sich nachmals an den Schauspieler Lobe und wurde die Mutter des jetzigen Directors am Wiener Stadttheater, Theodor Lobe. Die andere Schwester ist spurlos verschollen.

Den ältesten Bruder, einen einst gefeierten Schauspieler, trieb unglückliche Liebe in Wahnsinn und Selbstmord. Er war zehn bis zwölf Jahre älter als Ludwig, von riesiger Figur und wunderbaren Mitteln und der Liebling des Braunschweiger Hofes und Publikums. Auf Befehl des Herzogs von Braunschweig wurde er als Nero, welchen er in einem alten Stück, „Die Katakomben“, gespielt hatte, für die fürstliche Gemäldegalerie gemalt. Leider ging dieses Bild beim Brande des Braunschweiger Schlosses von 1830 zu Grunde. Charakteristisch für die allen Dessoirs eigene Energie ist die Art und Weise, wie er sich das Leben nahm. Er setzte sich bei offnen Thüren in bloßer Nachtjacke auf einen Stuhl, verstopfte sich Ohren und Nase mit Baumwolle und preßte ganz tief in seinen Mund ein feines ostindisches Taschentuch. So wurde er todt, anscheinend schlafend, gefunden. Unvermählt ist er in der Blüthe seiner Jahre heimgegangen, und sein jüngerer Bruder hat ihn nur als einen Wahnsinnigen kennen gelernt.

Der zweite Bruder lebt noch heute als reicher Mann und als Vater einer großen Familie in Amerika. Er war ursprünglich gleichfalls Schauspieler geworden, ging aber, da er in diesem Berufe nicht vorwärts kam, nach Amerika hinüber, wo er mit echt Dessoir’scher Energie sich aus bitterster Armuth zu blühendstem Wohlstande emporarbeitete. Als Straßenkehrer begann er drüben seine Laufbahn, wandte sich dann der Tischlerei zu und ist heute Inhaber eines großen Möbelmagazins. Vor etwa sechs Jahren war er in Berlin bei seinem berühmten Bruder zu Besuch. Er sah dessen „Hamlet“ und mißbilligte ihn als zu zahm; dafür legte er eine von ihm selbst verfaßte Tragödie, betitelt „Das Leben im Leben“, vor, in welcher Ludwig hinwiederum nur Spuren höheren Blödsinns erkennen konnte. Die beiden Brüder trennten sich auf Nimmerwiedersehn, ohne daß ein gegenseitiges geistiges Verständniß zwischen ihnen ermöglicht worden.

Als weitaus jüngster von den drei Brüdern mochte Ludwig Dessoir vielleicht der besondere Liebling der Mutter gewesen sein. Wenigstens erzählte er bis an sein Lebensende immer mit großer Rührung, daß seine Mutter sich fast blind geweint habe, als auch er zur Bühne ging. Auf der Bürgerschule seiner Vaterstadt hat er sich keine tiefe und breite wissenschaftliche Bildung aneignen können, zumal er schon mit vierzehn Jahren als Negerknabe Nanky in Körner’s „Toni“ die Bretter betrat. Bald darauf widmete er sich völlig der Bühne, indem er beim Director Couriol in Posen als Secretär, Rollenabschreiber, Schauspieler eintrat. Aber schon nach anderthalb Jahren mußte Couriol Concurs ankündigen, und nun begann für Dessoir ein Wanderleben bei kleinen ambulanten Bühnen, reich an Entbehrungen aller Art, aber auch reich an dem romantischen Zauber wegelagernden Zigeunerthums. Mit wahrem Behagen erzählte er später auf der Höhe seines Ruhmes von der Noth und dem Reiz dieser Lehrjahre. Sein erstes besseres Engagement fand er beim Director August Hake in Wiesbaden. Dort rückte er, sein Felleisen auf der Schulter, so ausgehungert,und bettelarm ein, daß er (es war zur Sommerszeit) mit den gefallenen Kirschen, welche er auf der Chaussee fand, wenigstens

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_109.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)