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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Bis zur Schwelle des Pfarramts.
1. Elternhaus.
(Schluß.)


Von drückenden Sorgen sahen wir nichts. Fast Alles, was man zum Leben brauchte, producirte man selber. Milch und Butter gaben die Kühe, welche das reichliche Heu der Pfarrwiesen ernährte, das Fleisch die Schweine, die man mit den Abfällen fütterte. Die Frucht lieferte die Zehntscheuer, den Hanf für die Winterarbeit der Mutter und Schwestern der Acker. Die Gemüse reichten Feld und Garten, und das Ei legten die Hühner und Enten, die im großen Hofraum und an den Halden ringsum sich ungehindert herumtrieben. Man lebte einfach und ländlich, aber man hatte genug. Am Morgen war die gewöhnliche Nahrung der Haferbrei, über welchen die Mutter das Sprüchlein führte: „Hafermus giebt starken Fuß“. Er kam in der rußigen, dreifüßigen Pfanne auf den Tisch, und Kinder, Knecht und Magd langten mit dem Löffel hinein – Teller brauchte man nicht; als der Jüngste hatte ich das Recht, auf dem Tische unmittelbar an der Pfanne zu sitzen, und ich gebrauchte dieses Vorrecht, um jedesmal das Fett, das sich in den Vertiefungen sammelte, vorwegzunehmen, wofür ich freilich von den Neidischen dann und wann Eins auf die Finger bekam. Neben der Hafermuspfanne stand ein hölzerner Teller mit rohem, ungekochtem Sauerkraute, unmittelbar aus der Stande; auf einige Löffel Haferbrei kam immer eine Gabel Sauerkraut. In den strengsten Arbeitszeiten nahmen Knecht und Magd außerdem jedes noch einen Hafen voll saurer (gestandener, geronnener) Milch.

Was sagt ihr, meine Leser und Leserinnen, zu diesem gesunden Volksmagen? Der Abend versammelte Alle wieder um die Schüssel voll süßer Milch mit dampfenden Kartoffeln, und Alle tauchten wieder mit dem Löffel in die Schüssel – so demokratisch war man noch. Fleisch und Wein bekamen wir Kinder nur wenig und zur Seltenheit. Der Kaffee war noch ganz unvolksthümlich. Nur da und dort hatte eine reiche Bauernfrau angefangen, im Kämmerlein abseits von der Welt an der duftenden Schale zu nippen, wie an einer seltenen, verbotenen Frucht. Unsere Eltern tranken ihn Morgens, und der Papa nahm einen ganzen Krug voll mit in die Studirstube, um daran bis zum Mittagsessen zu nippen. Es währte nicht lange, so wurde der Kaffee erst zur Wohlthat des Sonntags; dann, zehn Jahre später, trank ihn die ganze Familie bis zur Magd herunter täglich zweimal, und Niemand im Volke wollte das braune Getränk mehr entbehren. Mit der Unwiderstehlichkeit der Idee hatte die Culturbohne sich den Weg gebahnt.

Bei dieser Lebensweise gab es natürlich nicht viele Krankheiten, die fingirten ausgenommen, so das gewöhnliche Montagskopfweh, wenn ich den Sonntag über, der mir nicht zur Plage gemacht schien, vergessen hatte, die Bibelsprüche auswendig zu lernen, welche am Montag abgehört wurden, bis der Vater endlich die List merkte und den Patienten zur Arbeit trieb. – Auch war kein Arzt im Orte, wenn man nicht etwa ein autodidaktisches Genie von einem Barbier und Chirurgen so nennen wollte. Als ich mich einmal gelegt hatte und dem Vater der Zustand für seine gewohnten Hausmittel zu bedenklich schien, holte er den befreundeten Arzt aus der Stadt. Der kam, untersuchte mit Wichtigkeit Puls und Zunge und sprach von einigen Tränklein, die wohl helfen würden. Aber kaum war er aus der Kammer getreten und in der Wohnstube im lebhaftem Gespräche begriffen, so fing ich im Bette an hellauf zu pfeifen, worauf er – wenn er vernünftig war, ich weiß es nicht mehr genau – von jeder Medicin abstrahirte.

Aber nun laßt uns einmal aus dem Hause hinaustreten und sehen, was ein Dorfleben einem munteren Knaben in Sommer und Winter an Lust und Freude bringt. Da war der große Obstgarten mit Pflaumen und Zwetschen, mit Aepfeln und Birnen, mit Johannis- und Stachelbeeren; das war für uns Knaben das Paradies. Da bauten wir in der Sommerhitze die Laubhütten, unter denen wir im Schatten ruhten; da kletterten wir wie die Eichhörnchen auf die Bäume; da sammelten wir das zu früh gefallene Obst und legten davon im Heu eine „Munklete“ an, deren Geheimniß vor jedem fremden Auge sorgfältig gewahrt wurde.

In einer Nacht hatte es gestürmt und geregnet, und in unserer Phantasie ward jeder Windstoß zur Feenhand, welche die Aepfel schüttelte. Des Morgens höre ich, wie der Bruder in seinem Bettchen unter der Decke die Strümpfe sachte anzieht, um mir zuvorzukommen; ich, in einem Satze zum Bette hinaus, renne, wie ich bin, im bloßen Nachthemdchen durch Kammer und Wohnzimmer, wo die erstaunten Eltern und Geschwister sitzen, die Treppe hinab; der Bruder rennt hinter mir drein, und keine Drohung der Mutter mit geballter Faust zum Fenster heraus schreckte uns, das gefallene Obst aus dem nassen Grase aufzulesen.

Da waren die Freuden der Heuernte. Welche Lust für uns, in der thauigen Frühe aus den Schwaden, welche die Mähder von Morgens drei Uhr an gelegt hatten, die Kümmelstengel herauszulesen und den Kümmel der Dote (Taufpathin) nach S. zu schicken, wofür sie Jedem von uns einen Sechser (sechs Kreuzer) zurückgab, oder gegen Abend, Zügel und Peitsche in der Hand, – denn der treue Fuchs ließ sich von Kinderhand leiten – hinauszufahren und auf dem duftenden Heu heimzukehren!

Ja, dich kann ich nicht ohne Rührung nennen, treuer Fuchs, edles Thier. Als es eines Morgens hieß, du seiest todt, da stand die ganze Familie trauernd im Hofe und Keines war, das sich nicht die Thränen abwischte. Welche Dienste hast du uns erwiesen! Wie geduldig botest du dem Knaben deinen Rücken, wenn er dich in die große Schwemme unten am Pfarrgarten führte und das Wasser immer höher und höher stieg, daß er die Beinchen oben auf dir zusammenzog, bis du wieder schwer athmend zurückschwammest! Wie sicher trabtest du mit der altmodischen Pfarrkutsche dahin – „das Wort Gottes vom Lande“ pflegten wir Studenten später solche Möbel zu nennen, wenn sie in die Stadt hineinfuhren –, wie sicher trabtest du dahin, wenn der Vater etwa am Sonntag Nachmittag ausfuhr in die Stadt oder in ein benachbartes Pfarrhaus, oder wenn er auf vier bis fünf Stunden Weges den Sohn, der von der lateinischen Schule oder von der Universität in die Ferien kam, abholte, und gewöhnlich uns Buben, oft von der Straße weg, aufpackte und mitnahm! Wie kräftig zogest du den schwerbeladenen Wagen die stundenlange Steige hinaus in das hohe ferne Dorf, wo eine sehr primitive Anstalt zum Mosten war, wo wir Kinder unterdessen im Hause des Vetter Pfarrers uns tummeln durften! So fromm warst du uns Allen – so lieb, daß der Vater dir keinen Nachfolger gab. Wer hätte nach dir so treu gedient?

Oft ging ich mit den Knechten und Tagelöhnern dieses oder jenes Bauern schon am frühesten Morgen auf’s Feld und lebte den Tag über von rohem Speck und Schwarzbrod. Da machte es mir jedesmal besondere Freude, wenn ich den Kirchhof passirt hatte und den Eltern aus den Augen war, Strümpfe und Schuhe abzulegen und barfuß, wie die meisten Dorfkinder, durch’s Dorf zu gehen und den Staub der Straße aufzuwirbeln. Unvergeßlich sind mir besonders die Tage geblieben, die ich mit dem Gänsehirten auf dem Anger zubrachte. Wenn er in sein Horn stieß und die Gänseschaar aus den Bauernhöfen sammelte, das war Wonne für mein Ohr. Dann schloß ich mich an, blieb ein oder das andere Mal den ganzen Tag bei ihm, und redlich theilte er mit mir die Krumen harten schwarzen Brodes, welche die Bauern ihm, dem armen elternlosen Knaben, mitgegeben hatten. Da hüteten wir zusammen die Herde, damit keines sich in unerlaubtes Land verirre, da warfen wir uns in den Fluß, wenn die Sonne zu heiß drückte, und badeten und schwammen nach Herzenslust; da schmückten wir den Hut mit den Gänsefedern, die freiwillig ausfielen, oder zerrten auch der einen oder anderen besonders kräftig befiederten eine Schreibfeder gewaltsam aus, wenn sie in ein verbotenes Gehege gerathen war und wir sie fangen konnten.

Was da von Poesie und Naturstimmung unbewußt in die Seele fällt! Einmal ging ich über Feld – ich mochte sieben ober acht Jahre alt sein – die Lerchen trillerten in der Luft über die weite Ebene hin; die Kleefelder dufteten, und die Fruchthalme trieben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_120.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)