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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Die tanzenden Heiligen von Watervliet.
Von Moritz Busch.
II.
Bruder Harmon's Geheimniß und der Rest desselben. – Bei Diakon David. – Elder Pelham. – Einsames Frühstück. – Der Tanzsaal der Shaker. – In Papiertüten gesteckte und mit Brettern beschlagne Backfische. – Vogelgezwitscher und trommelnde Hasen. – Der Bruder des verlornen Sohnes. – Kreiseltanz und allgemeine Verzückung. –Ein Dilemma zum Abschied.

Am nächsten Tage, bald nach Mittag, klopfte ich wieder an Bruder Harmon's Thür. Ich fand ihn allein, und kaum hatte er meinen Gruß erwidert und sich mit zwei Blicken umgesehen, ob Niemand uns zuhören könne, als ihm auch schon sein Geheimniß von den Lippen floß. Es bestand, so weit es ein Anliegen war, kurz und rund in der Bitte, ihm zu heimlichem Entweichen aus der Colonie durch Verschaffung von gewöhnlichen Kleidern zu verhelfen. Er heiße, so berichtete er weiter, Hermann Cornelius, habe in Kiel Theologie studirt und sei 1849 nach Amerika gekommen, wo ihn „unglückliche Verhältnisse“, über die er sich nicht näher ausließ, etwa vor Jahresfrist gezwungen hätten, sich vor dem Hunger und dem Winter in das Asyl von Watervliet zu flüchten. Man hatte ihn hier liebreich aufgenommen, ihn zuerst nur mit leichter Handarbeit beschäftigt und ihn dann mit der Erziehung von Kindern und der Beaufsichtigung von Novizen betraut, deren sich vor Einbruch des Winters hier immer eine Anzahl melden, und aus denen sich die Gemeinde, sofern sie nicht mit Eintritt der milderen Jahreszeit das Weite suchen, allein ergänzt. Er hatte hier, was er vorher nicht gehabt, Obdach, Nahrung und Kleidung, und es war ihm kein Zwang auferlegt, als der, den er selbst gewählt, einen Glauben, den er nicht hatte, heucheln, und einen Gottesdienst, der ihm lächerlich war, mitmachen zu müssen. Das war die traurige Seite der Sache. Er mußte in der That sehr unglücklich sein. Aber die Sache hatte auch eine andere Seite, und diese war von der Art, daß ich, als ich sie erfahren, froh war, nicht in der Lage gewesen zu sein, ihm zur Flucht zu helfen. Ihm war, wenn überhaupt, nur hier in Watervliet von den „unglücklichen Verhältnissen“ zu helfen, deren Natur der Rest seines Geheimnisses war; denn in Watervliet gab es – keinen Whiskey, sondern nur klares Brunnenwasser und Thee ohne Zuthat. „Hermann Cornelius“ war ein Gewohnheitssäufer, und um mit ihm gleich hier zu Ende zu kommen, schalte ich eine Stelle aus meinem in Cincinnati geführten Tagebuche ein.

„12. November. Heute bei Pastor Kröll von der Johanneskirche. Erzählte ihm von meinem Abenteuer in der Shakerstadt. Horchte hoch auf, als ich ihm Bruder Harmon beschrieb, und brach endlich, indem er auffuhr und die Hände zusammenschlug, in die Worte aus: 'Ei, das ist ja der leibhaftige – (er nannte ihn nicht Cornelius), den sie aus zwei oder drei Gemeinden fortjagten, weil er sich in der Schnapsflasche das Delirium geholt!' In der vierten hatte er sich, so berichtete der Pastor, eine Zeitlang gut gehalten, dann aber war der Versucher wieder gekommen, und er hatte dem Glase so gründlich zugesprochen, daß er in seinem Wahnsinne in den Wald gelaufen und sich sämmtliche Kleider vom Leibe gerissen hatte. Dann war er spurlos verschwunden. Es ist bisweilen gut, wenn man nicht die Mittel hat, gutherzig und hülfreich zu sein. Mein Fall mit 'Bruder Harmon' war ein solcher.“

Ich sagte ihm damals in Watervliet, ich wollte mir die Sache überlegen, und dabei blieb es ungefähr, auch als wir schieden. Zunächst aber besuchte ich mit ihm den Diakon David, einen schläfrigen, grämlichen Riesen mit großen, lichtblauen, verschwommenen Augen, der sich in einem Schaukelstuhle am Ofen wärmte, obwohl die Sonne draußen recht warm schien. Bruder Harmon hing trüben Gedanken nach. Bruder David, überhaupt einsilbig, schien nicht viel von geistigen Dingen zu wissen, doch erhielt ich von ihm einige Mittheilungen über die äußeren Zustände und Verhältnisse der Niederlassung.

Watervliet war jetzt nur von einer „Familie“ ober Gemeinde bewohnt, während das benachbarte Union Village deren drei umfaßte. Die hiesige Familie zählte vierundfünfzig Seelen, darunter etwa dreißig Frauen und zehn Kinder. Die oberste Leitung ist in die Hände von vier Aeltesten, zwei von den Brüdern und ebenso viele von den Schwestern, gelegt, zu deren Pflichten unter Anderem gehört, daß sie den sich zum Eintritt in die Gemeinschaft meldenden Weltkindern ein Sündenbekenntniß abfragen. Der Diakon ist unter ihrer Aufsicht der Geschäftsführer der Colonie gegenüber der Außenwelt. Er schließt Lieferungen und Verkäufe ab, verwaltet die Finanzen und hat für die Unterbringung einsprechender Fremden zu sorgen. Die vorkommenden Arbeiten werden von den Aeltesten unter die Mitglieder der Familie vertheilt und zwar nach dem Maße ihrer Kräfte und der Art ihrer Talente und Fertigkeiten. Die Hauptbeschäftigung der Colonisten ist der Ackerbau auf der sechshundert Acres großen Rodung, die ihnen gehört, und etwas Viehzucht. Dazu kommen die Verfertigung grober Kleiderstoffe aus einem Gemisch von Wolle und Baumwolle, Wagnerarbeiten und das Flechten von Strohhüten, Bastmatten und Stuhlsitzen aus Spahn. Der Boden ihres Landbesitzes ist gut. Ihr Weizen wird oft über den Marktpreis bezahlt. Sehr geschätzt ist die Sarsaparilla, die sie bauen, und allein an Erdbeeren hatte Diakon David im verflossenen Sommer für zweihundertfünfzig Dollars verkauft.

Mein langer Diakon war meinen Fragen gegenüber immer einsilbiger geworden und schließlich sanft eingenickt. Bruder Harmon brütete fort, ohne Zweifel über sein Schicksal. Ich versuchte mir die Langeweile zu vertreiben, indem ich in einem geschriebenen Gesangbuche der Shaker las. Nach einer Weile wurde ich hierin durch die Ankunft Elder Pelham's angenehm unterbrochen. Der kleine, flinke, helläugige Mann war das Gegentheil des Diakons. Bald fragend, bald antwortend, gab er mir einen wohlgefügten und anschaulichen Ueberblick über den geistigen Besitz der tausendjährigen Kirche. Er legte eine nicht gewöhnliche Kenntniß der Bibel an den Tag, brauchte mehrmals originelle Bilder und wußte Zweifeln und Einreden nicht ohne Geschick zu begegnen. Wir waren noch im besten Zuge, als eine Glocke läutete. Sie rief zum Essen. Diakon David führte mich in die Küche des großen Ziegelhauses, wo eine ältliche Schwester mich mit Kuchen, Apfelmuß, Tomatos, Brod, Butter, Fruchtgelée und Thee versorgte. Die Uebrigen aßen mit den anderen Gliedern der Gemeinde für sich in einem anderen Raume, da die Shaker – vielleicht aus Furcht vor der Wirkung fremder Blicke auf die Gemüther der jüngeren Schwestern – Niemanden, der „nicht sein Kreuz auf sich genommen hat“, mit sich an einem Tische speisen lassen. Doch erfuhr ich später, daß sie vor und nach der Mahlzeit knieend beten und daß sie keine Fleischspeisen genießen.

In die „Office“ David's zurückgekehrt, las ich wieder in dem Gesangbuche, aus dem ich mir einige der besten Lieder abschrieb. Dann läutete die Schelle wieder, jetzt zweimal – das Zeichen zum Beginne des Gottesdienstes, des Tanzes. Ueber den Hofplatz zwischen der „Office“ und dem Ziegelhause und dann über den Gang, auf den Bruder Harmon's Stube mündete, begab ich mich, vom Diakon begleitet, eine braunlackirte Treppe hinauf in einen ziemlich großen, durch die ganze Breite des ersten Stockes gehenden, auf jeder Seite durch vier Fenster erleuchteten Saal, der, wie die Wohnstuben, einfach weiß getüncht und unten an den Wänden mit braunem Holzgetäfel versehen war. Uns gegenüber befand sich eine Glasthür. Auf der Weiberseite, links von unserer Thür, war eine dritte. Derselbe gelbe Strich, der unten auf dem Gange die Grenze des Gebietes der Geschlechter bezeichnete, theilte auch den Saal der Länge nach in zwei Hälften. An den langen Seiten des letzteren liefen einfache Bänke hin. Ich erhielt einen Stuhl. Von der Decke hing eine brennende Messinglampe herab, unter der ein kleiner blauer Teppich lag. Sonst war nichts von Geräthen hier zu sehen. Von den Theilnehmern am Gottesdienste waren bis jetzt nur vier Knaben in Shakertracht und ihr Mentor, der freundliche Alte, der mich Tags vorher bei Bruder Harmon eingeführt, sowie sechs oder sieben Mädchen im Backfischalter zugegen. Letztere schienen „ihr Kreuz“ noch nicht schwer zu empfinden oder es noch nicht mit der rechten Würde und Andacht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_130.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)