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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


durch die schmale Oeffnung eines Fensterchens gerettet habe, ist unwahr, und sogar abgeschmackt unwahr, da dies bei seiner Körperbreite geradezu eine Unmöglichkeit gewesen wäre. Mit Victor Considerant, dem socialistischen Führer, ging er vielmehr ruhig von dannen, war einen Monat lang in einer niedrigen Dachwohnung versteckt, wo er kaum aufrecht stehen konnte und, wie er mir später erzählte, aus Mangel an Bewegung unsäglich litt, bis es ihm gelang, Paris und Frankreich insgeheim zu verlassen. Er begab sich nach Belgien und von da nach England.

An den Straßenecken von Paris fand ich am 14. Juni die Anschläge, welche den Belagerungszustand der Stadt ankündigten. In dem Ausschusse der Nationalversammlung, welcher den Belagerungszustand beantragte, saß Victor Hugo, damals noch Mitglied eines conservativen Vereins und Gegner der entschiedenen Republikaner. Auch er stimmte für Verhängung des Belagerungszustandes. Seine Umkehr zu der Partei, der er jetzt angehört, erfolgte bekanntlich erst Ende 1850.

Als einer der Beauftragten der Regierungen von Baden-Pfalz hielt ich es für meine Pflicht, trotz anscheinender Gefahr in Paris zu bleiben. Dem Völkerrechte zuwider, wurde ich verhaftet, in die Conciergerie und von da nach La Force abgeführt, und in den gegen die Bergpartei angestrengten Staatsproceß verwickelt. Mein an den Minister des Auswärtigen gerichtetes Verwahrungsschreiben blieb ohne Erfolg. Die Linke der Nationalversammlung brachte endlich durch Herrn Savoye die ganze badisch-pfälzische Angelegenheit zur Verhandlung; bei diesem Anlasse gab Herr von Tocqueville, der unterdessen die Stellung als Minister des Auswärtigen eingenommen, eine Erklärung ab, welche ein scharfes Schlaglicht auf die späteren französischen Rheingrenzpläne wirft, wie sie im Kriege von 1870 zu Tage traten.

Herr von Tocqueville hatte vor der Nationalversammlung einen Völkerrechtsbruch zu rechtfertigen. Er versuchte dies zuerst durch die Behauptung, ich sei nicht in der Eigenschaft eines Bevollmächtigen, sondern als Mitverschwörer des 13. Juni verhaftet worden. Da diese in jeder Beziehung unstichhaltige Angabe durch stürmische Gegenrufe bestritten wurde, griff der Minister zu einem Mittel, von dem er glaubte annehmen zu können, daß es unbedingt ziehen werde. „Hat man denn,“ rief er aus, „die Vergangenheit so weit vergessen, daß man nicht mehr weiß, daß die Partei, welche in Baden und der Pfalz triumphirte, dieselbe ist, die seit zehn Jahren die wüthendste, unversöhnlichste Feindschaft gegen Frankreich hegt?“ (Zwischenrufe zur Linken: „Gegen die französische Regierung!“ – Der Vorsitzende: „Aber lassen Sie doch das französische Interesse vertheidigen!“) … „Das ist ja dieselbe Partei, die durch ihre Schriften, durch ihre Drohungen sich immer mit der größten, mit der bittersten Entschiedenheit gegen das Streben des französischen Volkes, sich bis an den Rhein hin auszudehnen, erhoben hat. Das, meine Herren, ist die Partei, die den Kern des Aufstandes in Baden und Rheinbaiern bildet.“

Nach dreitägiger Verhandlung ging die Versammlung zur Tagesordnung über. Graf Tocqueville's Rheingrenzrede hatte ihre Wirkung erzielt; ich mußte auch ferner als Staatsgefangener in La Force verweilen.

Mittlerweile hatten die preußischen Truppen die Rheinpfalz und den größeren Theil von Baden unterworfen. Mit der Auslieferung bedroht, wenn ich nicht erkläre, daß die Botschaft, als deren Mitglied ich nach Paris gegangen war, rechtlich zu bestehen aufgehört habe, verweigerte ich, diese Erklärung abzugeben, und wurde eine Zeitlang unter der Drohung im Gefängnisse gehalten, daß ich auf die Kehler Brücke gebracht werden solle, jenseits deren so mancher Freund bereits das Leben ausgehaucht hatte. Schließlich wurde ich indessen aus der Haft entlassen, nachdem mir das Ehrenwort abverlangt worden, daß ich mich nicht in die Schweiz, wohin ich zu gehen gewünscht, sondern nach England verfügen würde. Mit der Entlassung aus der Haft erfolgte gleichzeitig die Verbannung aus Frankreich, und zwar – „für immer“.

In späteren Jahren traf ich mit Ledru-Rollin wieder auf dem Boden Englands zusammen, wo er von 1849 bis 1870 ohne Unterbrechung weilte. Da meine eigenen Lebensschicksale, so weit Frankreich dabei in’s Spiel kam, mit den seinigen so eng verflochten waren, so ergab sich ein natürlicher Berührungspunkt, der bald noch gestärkt wurde durch die gemeinsame Freundschaft mit Mazzini, um dessen willen der französische Führer seine ganze Stellung hatte opfern müssen.

Ich rechne die Stunden, welche ich und die Meinigen während einer Reihe von Jahren in Gesellschaft Ledru-Rollin’s zubrachten, zu den angenehmsten unseres Lebens. Der Reiz des Verkehrs war erhöht durch seine hochbegabte und liebenswürdige Gemahlin, deren Kenntniß deutscher Literatur und einiger Wissenszweige, die mir besonders nahe liegen, keine gewöhnliche ist. Dabei ließ die Festigkeit ihrer politischen Gesinnung sie gern an der Unterhaltung über Freiheitsfragen theilnehmen. Sowohl Ledru-Rollin wie seine Gattin war überdies der Beschäftigung mit philosophischen Fragen zugeneigt. Mit Naturwissenschaften, besonders mit der Sternkunde, gab er sich in letzter Zeit vorzugsweise gern ab. Ueber diese Gegenstände sprach er mit einem Redeflusse und einer Begeisterung, welche von der Lebendigkeit seiner Aeußerungen über Staatsangelegenheiten kaum übertroffen wurde. Der durch den Mangel an öffentlicher Thätigkeit zurückgehaltene Strom der Beredsamkeit brach bei solchen Anlässen oft mit einer Gewalt durch, welche das friedliche Zimmer plötzlich in einen Parlamentssaal zu verwandeln schien.

(Schluß folgt.)




Die Schäden der modernen Cultur.
1. Eine verschämte Arme.


Bei dem Rentier Meitzen, einem bereits bejahrten und durch seine Gutmüthigkeit bekannten Herrn, ließ sich eine Dame anmelden. Die Eintretende, welche höchstens dreißig Jahre zählen mochte, war schwarz und einfach gekleidet, aber jeder Theil ihrer Kleidung verrieth die größte Ordnung und Sauberkeit. Ihr Gesicht war bleich, und auf den hübschen Zügen lag der Ausdruck eines tiefen Leides. Mit gesenkten Augen war sie neben der Thür stehen geblieben.

Meitzen, welcher sie scharf beobachtet hatte, fragte, was sie wünsche; sie bewegte die Lippen, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Die Hand, in der sie mehrere Papiere trug, zitterte leise. Noch einmal wiederholte Meitzen seine Frage, und wieder schien die Frau mit der Antwort zu ringen; eine Thräne drängte sich in ihr Auge und rann langsam über die bleiche Wange.

„Verzeihen Sie – die Noth hat mich zu Ihnen getrieben,“ sprach sie endlich. „Ich bin so namenlos unglücklich, daß mir nichts als dieser Schritt übrig blieb.“ – Sie weinte heftiger.

Meitzen’s Herz regte sich. Er war zwar von verschämten und unverschämten Armen sehr oft in Anspruch genommen. Er hatte in der großen Stadt, in der er lebte, schon so schlimme Erfahrungen gemacht, daß er alle Bettler kurz abwies – hier konnte er es nicht. Die Frau hatte ja noch um nichts gebeten. Sie war eine Unglückliche; das unterlag keinem Zweifel, und er wußte auch, daß Mancher unverdient und in harter Weise vom Unglück heimgesucht wird. – Er forderte die Arme auf, ihm ihr Geschick zu erzählen.

„Mein Mann war Lehrer,“ begann die Frau, indem sie mit der Linken über die Augen fuhr. „Er hatte nur eine geringe Stelle, wir litten jedoch keine Noth, obschon er kränklich war. Wir theilten das Wenige, was wir hatten, ein und kamen damit aus. Vor einem Jahre starb er, und ich stehe nun mit meinen vier Kindern allein und hülflos da.“ – Sie preßte das Tuch vor das Gesicht.

„War Ihr Mann hier in B. Lehrer?“ fragte Meitzen, der Mitleid empfand.

„Nein,“ – sie nannte ein Dorf in der Provinz.

„Weshalb sind Sie nicht dort geblieben?“

„Es war nicht möglich. Anfangs versuchte ich es. Ich hoffte durch Nähen und Stricken mich und meine Kinder zu ernähren, allein ich fand bei den Bauern keine Arbeit und Mitleid noch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_151.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)