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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
4. Die „Prospecte“.

In den Jahren 1871 und 1872 sah man die Berliner und auch die größeren Provinzialzeitungen unförmlich anschwellen, nicht den politischen Theil oder das Feuilleton – die vielmehr merklich zusammenschrumpften –, wohl aber die Börsenabtheilung und die Annoncen. Blätter, wie die Vossische und die National-Zeitung, glichen in jeder Nummer einem dicken Actenstücke, brachten täglich fünf bis zehn Bogen Beilagen, die von oben bis unten nur mit Inseraten bedeckt waren, und zwar in der Hauptsache mit solchen, die Gründungen und Emissionen verkündigten. Jede Nummer brachte ein paar „Prospecte“, und jeder „Prospect“ nahm eine oder ein paar Folioseiten ein, indem er in Druckerschwärze und weißen Zwischenräumen wahrhaft schwelgte, in der denkbar fettesten Schrift und in riesigen zollhohen Buchstaben sich präsentirte. Das war eine fette Zeit für die Zeitungen, und sie verstanden’s, das Fett abzuschöpfen. Sie ließen die Annoncenspalten schmäler und schmäler werden und erhöhten trotzdem die Insertionsgebühr in raschen Sprüngen um das Doppelte und Dreifache. Große Blätter mögen damals für Inserate zwei- bis fünftausend Thaler täglich eingesäckelt haben. Die Berechnung ist einfach. Die Seite kostet z. B. in der National- und in der Vossischen Zeitung circa 125, der Bogen etwa 500 Thaler. Vier bis sechs Bogen Inserate – während der Gründerzeit das Gewöhnliche – brachten also 2 bis 3000 Thaler, und wenn es acht bis zehn Bogen waren, was an vielen Tagen vorkam, 4 bis 5000 Thaler. In der „Kölnischen Zeitung“ stellen sich die Annoncen noch theurer. Aber der „Große Krach“ hat auch die Einnahmen der Zeitungen stark beschnitten. Statt der goldenen Inseratenfluth von damals ist heute die kläglichste Ebbe eingetreten; es werden nicht mehr so viele Hunderte eingenommen wie früher Tausende.

Die „Prospecte“ waren Entbindungsanzeigen. Eine neue Gründung war vollbracht, eine neue Actiengesellschaft hatte das Licht der Welt erblickt, und das liebe Publicum wurde zur Gevatterschaft eingeladen. „Prospect“ heißt bekanntlich zunächst Anblick, Aussicht, Fernsicht, und deshalb war das Wort sehr glücklich gewählt, überaus bezeichnend. Die „Prospecte“ können nicht besser verglichen werden als mit den Guckkastenbildern, wie man sie auf Kirmessen und Jahrmärkten zeigt. Man guckt in den Kasten und glaubt ein herrliches Schloß zu sehen, oder ein Bergwerk in vollem Betriebe, oder eine paradiesische Landschaft, aber in Wahrheit ist es nur eine grobe dicke Farbenkleckserei. Die „Prospecte“ freilich waren in der ersten Zeit der Gründungen nicht solch plumpe, sondern eine weit feinere, mehr künstlerische Arbeit, sodaß sie sich zuweilen wie ein farbiges Feuilleton oder gar wie ein schwungvolles Gedicht lasen. Man höre z. B. den „Prospect“ der „Ersten Altenburger Zuckerfabrik-, Kohlenabbau- und Landwirtschaftlichen Industriegesellschaft“: „Zu den gesegnetsten Fluren des deutschen Vaterlandes gehört der Ostkreis des Herzogthums Sachsen-Altenburg. Die vorzügliche Fruchtbarkeit seines Bodens ist allgemein anerkannt. Aber er birgt auch die werthvollsten unterirdischen Reichthümer – ein Braunkohlenlager von seltener Mächtigkeit, das für diese Gegend eine industrielle Entwickelung in Aussicht stellt, welche nur der weckenden und fördernden Hand wartet, um rasch eine dauernde Blüthe zu erlangen. – Inmitten dieses Bezirks liegt das Rittergut Zechau, unter diesen reichen Geländen die Krone der dortigen Landgüter etc.“

Der verlockenden Schilderung des Gründungsobjects folgte stets eine noch hinreißendere „Rentabilitäts-Berechnung“. Den Actionären wurde ein Gewinn verheißen, der den Edelmuth der Gründer in das hellste Licht stellte und es fast unbegreiflich erscheinen ließ, wie sie solch kostbares hocheinträgliches Object überhaupt weggeben konnten. Allermindestens wurde eine Verzinsung von zehn Procent in Aussicht gestellt, aber in der Regel weit mehr. Das Vergnügungsetablissement „Flora“ in Charlottenburg rechnete zwölf Procent Dividende heraus; trotzdem ist der Cours heute nur 20. „Berlin-Charlottenburger Bauverein“, eine Schöpfung des Herrn Richard Schweder, versprach nicht blos eine derartige Dividende, sondern stellte schon im „Prospect“ einen Gewinn von dreizehn Procent als vollendete Thatsache hin, weshalb die Actien auch zum Course von 110 aufgelegt wurden; – merkwürdiger Weise ist dieser aber auch inzwischen bis auf 35 gesunken. Maschinenfabrik von vormals Egells versprach in den ungünstigsten Jahren fünfzehn Procent, sonst mehr: – heutiger Cours 28. Kattun-Manufactur von vormals Schwerdtfeger in Eilenburg wies siebenzehnundeinhalb Procent als frag- und zweifellos nach: – heutiger Cours 50. Bei vielen anderen Gesellschaften ist das Mißverhältniß noch weit größer; wir wollen nur einige anführen:

Joseph Beer selige Wittwe in Liegnitz versprach für die „Schlesische Wollwaaren-Fabrik“, welche „aus dem vorigen Jahrhundert datirt“, „eines Weltruhms genießt“ und ein Waarenhaus besitzt, dessen „sehr ausgedehnte Räume von Einem Punkt aus übersehen werden können“ – fünfzehn bis zwanzig Procent Dividende. Heutiger Cours 20.

Herr Naumann, herzoglicher Domainenpächter, rechnete für die „ Altenburger Zuckerfabrik und Kohlenabbau-Gesellschaft“ einen Gewinn von 113,000 Thalern jährlich heraus, und zwar auf einen Zeitraum von einhundertzwanzig Jahren. Heutiger Cours 4.

Herr Jean Fränkel verhieß für die „Märkische Torfgräberei“, mittelst welcher er Berlin mit billigem Brennmaterial versorgen wollte – fünfzehn Procent Dividende. Heutiger Cours 4 Brief.

Freiherr von Werthern versprach für die von ihm verkauften „Vereinigten Oderwerke“ eine Dividende von neunzehn Procent. Heutiger Cours – 0.

„Remscheider Stahlwerke“ von vormals Arntz u. Co., mit 110½ an der Börse eingeführt, ließen eine Dividende von über dreißig Procent erwarten. Heutiger Cours – 0.

Um dies erschreckliche Mißverhältniß einigermaßen aufzuklären, wollen wir uns zu ein paar Bemerkungen verstehen: „Altenburger Zuckerfabrik“ den Actionären mit 700,000 Thaler überwiesen, kam kürzlich unter den Hammer des Subhastationsrichters. Das Meistgebot war etwa 200,000 Thaler, ging aber auch nur von den Hypothekengläubigern aus, die so ihre Forderungen retten wollten. Für die Actionäre selber ist kaum etwas zu hoffen. „Vereinigte Oderwerke“ bestanden in einem Lehmstich mit Ziegelei, welche der Gesellschaft 162,000 Thaler kosteten. „Märkische Torfgräberei“, von der Börse, welche eine sehr feine Nase hat, alsbald „Märkische Todtengräberei“ benannt – war gleichfalls nur eine Torfwiese, und noch dazu eine sehr fragwürdige, welche Herr Jean Fränkel den Actionären mit 210,000 Thalern in Rechnung stellte. Diese Summe war so haarsträubend, daß selbst der Vorbesitzer darob erschrak, wiewohl auch er die Torfwiese gewiß nicht billig abgegeben hatte, und in einem anonymen Inserat das auf „Märkische Todtengräberei“ begierige Publicum höflichst einlud, sich nach der Moritzstraße 5, parterre, links, bemühen zu wollen, wo man ihm über die Gründung reinen Wein einschenken werde.

Herr Jean Fränkel aber, obgleich er nur zu den Gründern zweiter oder gar dritter Classe gehört, verdient etwas näher in’s Auge gefaßt zu werden. Er ist nämlich ein Mann von Charakter und Consequenz. Andere seiner Berufsgenossen haben, sei es aus Laune, sei es aus Versehen, mitunter eine mehr oder minder lebensfähige Gesellschaft in die Welt gesetzt. Das aber hat Herr Jean Fränkel, gleichsam des Princips wegen, nie gethan. Unter den faulen Gründungen der Schwindelperiode sind die von ihm begangenen die faulsten. Sie stinken sämmtlich zum Himmel. Selbst die Börse, die in solchen Dingen nicht wählerisch, nicht ekel ist, kann die Gründungsleichen des Herrn Jean Fränkel nicht handeln, ohne daß ihr eine Gänsehaut über den Rücken läuft. Neben der „Märkischen Todtengräberei“ sind noch zu nennen: „Berliner Weißbierbrauerei“, vormals Gericke – heutiger Cours 20, „Charlottenburger Baugesellschaft“, unter Mitwirkung des Bürgermeisters von Charlottenburg, Herrn Bullrich, verübt – heutiger Cours 8, und „Nieder-Schönhausener Baugesellschaft“, die gar nicht mehr notirt wird. Der Besitz dieser Gesellschaft besteht in einem Sandplatze, der ihr für 230,000 Thaler aufgehalst wurde. Während der Verkäufer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_170.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)