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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


der Parochialkirche hat Küster eine ausführliche Beschreibung derselben, doch ohne Erwähnung jenes Vorfalls, so daß auch in diesem Punkte das Poetische der Sage den Kern der Wahrheit vermissen läßt. Immerhin aber kann an den Vorgängen und an dem Scherze des Königs etwas Wahres sein, was die Sage ausgeschmückt und, wie bei der „historischen Windmühle“ bei Sanssouci, gerade das Gegentheil von dem ursprünglichen Sachverhalt herausgekehrt hat.

Was ferner das eigenthümliche Bildwerk betrifft, so scheint dasselbe bei seiner vorzüglichen Technik aus dem Ende der Regierungszeit Friedrich’s des Ersten, oder auch von Lieberkühn selbst herzustammen, welcher „tüchtige Zeichner und Bildner an der Hand“ hatte. Ursprünglich soll das aus Sandstein gearbeitete Wahrzeichen vergoldet gewesen, bei einem Abputz des Hauses aber mit Kalk überstrichen worden sein.

Bis zum Jahre 1841 stand der Neidkopf ungestört an seiner Stelle, bis er am 4. Juli jenes Jahres von der Besitzerin des Hauses abgenommen, und die Nische, in welcher er stand, zugemauert wurde. Sechszehn Jahre hindurch blieb das den Berlinern lieb gewordene Bildwerk verschwunden, bis der Geheime Hofrath Schneider am 27. December 1857 in Erfahrung brachte, daß dasselbe bei dem Antiquitätensammler May für sechs Friedrichsd’or zum Verkaufe ausgestellt sei.

An demselben Abend noch vom König zur Vorlesung nach dem Charlottenburger Schlosse befohlen, nahm der Hofrath Cosmar’s „Sagen und Miscellen“ (denen wir die erste Erzählung entlehnt haben) mit sich und lenkte das Gespräch auf die alten Wahrzeichen Berlins, von deren Geschichte und Sagen Friedrich Wilhelm der Vierte vollständig unterrichtet war. Bei der besonderen Vorliebe desselben für Berlinische Alterthümer konnte es nicht fehlen, daß der König den sofortigen Ankauf des Neidkopfes, und die Wiederaufstellung desselben an der alten Stelle zu veranlassen befahl. Auf die hingeworfene Bemerkung, daß der Eigenthümer des Hauses sich dessen weigern könnte, entgegnete der Monarch nach kurzem Besinnen:

„Nun, so werde ich den Neidkopf über der Thür des Hinterhauses der Kriegsschule anbringen lassen. Ich weiß, daß sich dort ein Architrav an der Supraporta befindet, aber schräg, halb gegen Nr. 11, und halb gegen Nr. 38 gerichtet, damit die moderne Mißgunst ihr Sinnbild vor Augen hat; so schräg, daß es jedem Vorübergehenden auffallen muß. Die bloße Erkundigung nach der Veranlassung zu einer solchen Aufstellung wird schon die rechte Antwort hervorrufen – da kann ich mich auf meine Berliner verlassen.“

Dazu kam es indessen nicht. Der Eigenthümer des Hauses, Goldrahmenfabrikant Schultze, erklärte sich nicht nur bereit, dem Wunsche des Königs nachzukommen, sondern ließ auch in das Hypothekenbuch eintragen, daß der jedesmalige Besitzer das Bildwerk ohne Zustimmung des königlichen Fiscus nicht von seiner Stelle entfernen dürfe.

So wird denn der „Neidkopf“, als ein charakteristisches Bild vergangener Zeiten, in der Volkssage noch zu den Nachkommen sprechen von dem belohnten Fleiße und von der Bestrafung des Uebermuthes durch den König.

Ein nicht minder volksthümlich gewordenes Wahrzeichen ist die sogenannte „Rippe“ an dem Eckhause Nr. 13 des Molkenmarktes, wenngleich, oder vielmehr weil die daran haftende Romantik dem Schooße der Fabel entstiegen ist.

Als Berlin in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts aus einem unbedeutenden Fischerdorfe, dessen Hütten unfern der Nicolaikirche, also bis zu dem vorerwähnten Hause standen, zu einer Stadt erhoben wurde, bildete der heutige Molkenmarkt den alleinigen Marktplatz, nach welchem auch die wendischen Bewohner des benachbarten Stralow ihre Fische zum Verkaufe brachten. In der Gegend der „Rippe“, und wahrscheinlich auch vor dem ältesten Rathhause der Stadt, erhob sich der Roland als Symbol der selbstständigen Gerichtsbarkeit und als Hüter des Marktfriedens, bis Friedrich „der Eiserne“, nach dem Aufstande der Berliner im Jahre 1448, das Rolandsbild umstürzen ließ und dadurch der Stadt auch das äußere Wahrzeichen ihrer einstigen Selbstständigkeit entzog.

In jenen frühesten Zeiten nun – so lautet das Märchen – soll Berlin von einem Riesen erobert worden sein, welcher in dem Hause am Molkenmarkte residirte. Ueber Nacht aber hätten einige beherzte Männer den gefürchteten Recken erschlagen und so die Stadt von ihrem Widersacher befreit. Zum Gedächtnisse dieser Heldenthat sei das Haus mit dem Schulterblatte und einer Rippe des Riesen geschmückt worden.

So liegt denn der Sage ein schmeichelhaftes Zugeständniß der mit einer gewissen List verbundenen Geistesgegenwart und des persönlichen Muthes der Berliner zu Grunde.

Realistischer tritt die Annahme auf: Rippe und Schulterblatt rühren von einem urweltlichen Thiere her und seien im Baugrunde des Hauses gefunden worden, wie man ja auch neuerdings im Sande des Kreuzbergs den Riesenzahn eines solchen Thieres, oder mindestens eines Elephanten zu Tage gefördert.

Cosmar dagegen verwandelt das Wahrzeichen in ein hölzernes Aushängeschild, das in früherer Zeit zur Kennzeichnung eines Wirthshauses gedient habe. Dieser Annahme müssen wir entgegentreten. Denn zunächst sind uns die heraldischen Abzeichen und Namen jener ältesten Gasthöfe oder Wirthshäuser mit ihren oft historischen Reminiscenzen bekannt geblieben. So der „Güldene Arm“ und die „Weiße Taube“ in der Heiligegeiststraße, die „Alte Ruppiner Herberge“ und der „Gasthof zum Hirsch“ in der Spandauerstraße Nr. 79 und 30. Ein Gasthof „Zur Rippe“ aber ist nicht bekannt geworden.

Nach den von uns angestellten Ermittelungen soll vielmehr ein tief verschuldeter Kaufmann der Stadt den Rücken gekehrt haben, um sein Heil jenseits des Oceans zu versuchen. Er legte sich auf den Walfischfang, und das Glück begünstigte ihn. Hierher zurückgekehrt, ließ er zum Gedächtnisse an die Quelle seines Wohlstandes jene Theile eines Walfisches an der Façade des von ihm erworbenen Hauses aufhängen.

Bei der in jüngster Zeit vorgenommenen Erneuerung desselben ist das alte Wahrzeichen nicht nur an der ursprünglichen Stelle verblieben, sondern leuchtet auch in frischem Silberglanze dem Beschauer entgegen.




Blätter und Blüthen.


Der hannoverische Schützenkönig. (Mit Abbildung, Seite 236 und 237.) Im hannoverschen Dorfe J. war Schützenfest, begünstigt vom herrlichsten Wetter. Wenn man die lange, staubige, mit Obstbäumen bepflanzte Landstraße entlang auf das im ernsten, dunkeln Eichengrün liegende Dorf zuschritt, konnte man bald den festlichen Donner der Pauke, das Jubeln des Tenorhornes vernehmen. Im Dorfe selbst, vor, oder eigentlich besser hinter dem Wirthshause im sogenannten Obstgarten, ging es äußerst lebhaft und heiter zu; dort waren die Tische sauberer gedeckt, als draußen auf der Festwiese, und was im Dorfe sich als zur Honoration gehörig fühlte, hatte hier im Schatten Platz genommen und that sich gütlich. Das hohe, alterthümliche Haus war ganz mit Eichen umstanden, welche ihre Kronen stolz über die Dachfirste desselben hinaus dem Himmel entgegenstreckten, Lieblinge des niedersächsischen Bauern, der sie pflegt und hegt, sodaß man selten einen Hof findet, der nicht durch einen kleinen Eichenbestand geziert wäre. Die niedersächsische Art, wo Jeder, ein kleiner Herrscher auf eigenem Gebiete, seinen Hof in gewisser Entfernung vom Nachbar baut, umzäunt und bewallt, läßt so recht das germanische Blut erkennen. Das Wirthshaus, ein alterthümliches düsteres Gebäude aus dem Jahre 1610, wie die über dem Thore in’s Holz geschnitzte Inschrift besagt, wo auch die Namen der Erbauer der dörflichen Nachwelt aufbewahrt sind, gehörte dem biderben Hinnerk Stechmann, ein unvergängliches Nest, ganz aus Eichenbäumen gezimmert und geschnitzt und noch immer schmuck, wenn auch etwas verwittert, doch nirgend zeigt es eine Spur von Baufälligkeit, trotz der Jahrhunderte, deren Stürmen es getrotzt.

Die hannoversche Chronik erzählt, daß dieser mächtige, düstere Bau einst ganz im Wald gestanden habe, der sich ja einstmals in großer Ausdehnung um die getreue Stadt Hannover zog und der Lieblingsaufenthalt des Räubers Hanebusch gewesen sei, der dort von seinen unzähligen Blutthaten ausruhte, um sein Gewissen durch tüchtige Räusche einzuschläfern; anderen Nachrichten zufolge hat es ein schwedischer Trompeter bewohnt, der, „des langen Haders müde“, in den blauen Augen einer niedersächsischen Dirne den westphälischen Frieden eher, als alle seine Vorgesetzten gefunden hat. Wie dem auch sei, die heutigen Gäste fühlten sich unter der düsteren Firste äußerst gemüthlich. Es wurde lebhaft debattirt, denn die Helden des Tages waren draußen auf der Festwiese, bei den Scheibenständen und rangen um den Preis, wie das ununterbrochene Knattern ihrer Büchsen errathen ließ. Die meiste Anwartschaft auf die Königswürde schien der Forstwart zu haben, welcher auch als tüchtiger Schütze weit und breit bekannt war, was sein Beruf schon forderte, und obendrein hatte er seinem Könige und Kaiser als Scharfschütze unter den Goslar’schen Jägern gedient.

Keine Stimme erhob sich für den neunzehnjährigen Kunrad Wendt, worüber das schmucke Bauerntöchterchen, die in der Nähe der Debattirenden saß, äußerst betrübt war, da sie dem braven Jungen herzlich gut war; selbst der leibliche Vater Kunrad’s sagte zu ihr: „Meßföhren un

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_243.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)