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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

giebt. Auf die Gasträa folgten Urwürmer, denen wir die Anfänge eines Nerven- und Muskel-Apparates verdanken. Die Rückverfolgung dieser Bildungen erklärt oft sehr leicht, was uns bei dem ererbten Zustande höchst merkwürdig vorkommen müßte. So entwickelt sich beispielsweise der Sinnen- und Nerven-Apparat auch der höheren Thiere nicht aus denjenigen Theilen der jungen Anlage, die anderen inneren Theilen zur Grundlage dienen, sondern aus denselben, welche das Fell, die Oberhaut bilden. Allein bei den niedersten Thieren war die Oberhaut eben Universal-Sinnesorgan, Tast-, Gesichts- und Gehörs-Apparat zugleich, und nur aus Theilen der Oberhaut konnten die äußeren Einwirkungen Organe, wie z. B. die Sonnenstrahlen das Auge, bilden. Von diesen Oberhautorganen gingen aber selbstverständlich die ersten Nerven aus, und so ist ihre für den ersten Augenblick überraschende Entstehungsweise aus dem Hautblatte eigentlich nur einfach logisch. Bei den höheren Weichwürmern bildete sich bereits Blutumlauf und ein Gefäßsystem aus, und bei den ältesten Sackwürmern entstand die erste Anlage eines Kiemen-Apparates und der Wirbelsäule. Ehe die Bildung des Thierkörpers so weit vorgeschritten war, hatten sich formenreiche Nebenäste wirbelloser Thiere, die größtentheils statt des inneren Skeletes ein äußeres Schalengehäuse entwickelten, um den Muskeln feste Stützpunkte zu bieten, von dem Hauptstamme abgezweigt, die Ahnen der Weichthiere, Strahlthiere, Insecten etc.

In dem Wachsthume des Hauptstammes, bei dem wir mithin diesen Thieren nicht weiter begegnen, ist insbesondere der Zeitpunkt interessant, wo aus dem Wurm ein Wirbelthier geworden ist. Wir würden diese dem christlichen Demuthsgefühle gewiß mehr als die Affen-Abstammung zusagende Verwandtschaft mit den Würmern kaum geahnt haben, wenn nicht glücklicherweise ein später Abkömmling der zahlreichen Sippschaft der Urwirbelthiere im sogenannten Lanzetfischchen bis auf unsere Zeiten gekommen wäre. Dieses gehirnlose Rückenmarksthier, welches im Sande der meisten Meere lebt, verdient vollkommen jene ehrfurchtsvolle Betrachtung, die man Häckel so verübelt hat, denn wenn dieser letzte Mohikaner sich nicht der vergleichenden Untersuchung aufgespart hätte, würden wir schwerlich jemals zur Kenntniß der directen Ahnenreihe des Wirbelthierstammes und also auch des Menschen gelangt sein.

Der nächst höheren Abtheilung von Urwirbelthieren, von denen die Neunaugen späte Abkömmlinge sind, verdanken wir die Sonderung der äußeren Sinnesorgane und die Anfänge des Gehirns; den Urfischen, von denen ebenfalls noch einige Vertreter leben, die Bildung der äußeren Gliedmaßen. In der That, bei den Fischen gewahren wir zuerst ein Urbild unserer Körpergestalt mit den beiden vorderen und den beiden hinteren Extremitäten, die aber vorläufig noch vielgliederig sind. Die Verminderung der Endgliedmaßen auf fünf, die Grundlage der Decimalrechnung und die Ursache, daß wir hundertjährige Jubiläen feiern, trat zuerst bei Festlandthieren, den Ur-Amphibien auf, bei denen auch die Umwandlung des Kiemenapparates in Schädeltheile und der Schwimmblase in eine Lunge vollendet wurde. Wir zählen die zehn Mittelglieder zwischen Urfisch und Mensch, die Häckel anführt, nur einfach auf, es sind: Molchfisch, Kiemenlurch, Schwanzlurch, Uramniot, Stammsäuger, Beutelthier, Halbaffe, Schwanzaffe, Menschenaffe, Affenmensch, wobei wir von den vielen Seitenzweigen nur einen der heute artenreichsten, das Vogelreich, nennen, welches sich unmittelbar von den Schwanzlurchen ableitet.

Alle diese Vorstufen muß das höhere Wirbelthier, wie gesagt, bei seiner individuellen Entwickelung durchmachen, und dabei jedesmal von der einfachen kernlosen Zelle anfangen. Es muß in gewisser Beziehung gehirnloser Wurm, Fisch etc. werden und in derselben Reihenfolge wie der Stamm selber Muskel-, Nerven- und Gefäßsystem ausbilden, wobei um so weniger Unterschiede zwischen den einzelnen Wirbelthieren merkbar sind, je jünger die Entwickelungsstufen sind, die man vergleicht. Es giebt Augenblicke im Leben des noch ungeborenen Menschen, wo er von den allerniedrigsten Thieren, und solche, wo er von den Anfängen eines Fisches nicht zu unterscheiden ist. Zwischen Affen und Mensch sind auch in den letzten Entwickelungsstadien kaum irgend welche anatomische Unterschiede nachweisbar. Den gefühlvollen Seelen, die sich am meisten vor ihren nächsten Verwandten im Thierreiche scheuen, geben wir gern die beruhigende Versicherung, daß wir keine unserer heute lebenden Affenarten als Eltern zu ehren brauchen. Es sind ungeschliffene, verkommene Vettern, deren wir uns wirklich mitunter schämen müssen. Unsere Ureltern mögen wir uns als stille manierliche Waldmenschen vorstellen. Jedenfalls dürfen wir stolz darauf sein, es ihnen gegenüber so erklecklich vorwärts gebracht zu haben, und uns erinnern, daß diese Erkenntniß uns dazu stählen muß, dem Fortschritte als dem höchsten Gesetze der Natur und als einer Art von Religion zu huldigen. Besser, sich von einem unvernünftigen Thiere zu dem über seine Abkunft philosophirenden Menschen aufgestiegen zu wissen, als sich von dem göttergleichen Adam zu einem abergläubischen Fetischanbeter herabzuwürdigen. Weit entfernt, daß die sich vorbereitende Weltanschauung den Menschen verthieren und edleren Regungen abhold machen könnte, wird sie alle in ihm noch schlummernden Keime zu entfalten streben, denn ein Fortschreiten zum Vollkommneren ist ja ihr Grundgedanke.

Carus Sterne.




Dichter und Rathswachtmeister.


Auf dem Friedhofe von Jena, nach dem wir die Leser dieser Blätter schon öfter geführt haben, steht hart an der Ostwand der St. Johanniskirche ein aus Sandstein geformter Gedenkstein, der in goldenen Lettern dem unter ihm Gebetteten folgendes Distichon nachruft:

Jenas edelstem Sohne, deß goldenem Munde entströmte
     Treu im Frieden und Krieg manches unsterbliche Lied.

Ueberrascht von diesem hohen Lobespsalter, der dem Schläfer unter der Erde nicht bloß unsterblichen Dichterruhm nachredet, sondern ihn auch unter die Edelsten einer Stadt reiht, die der edlen Söhne so viele schon gehegt, forscht der Leser nach der Person des also Gefeierten und findet auf dem Steine einen Namen verzeichnet, den er wohl selbst noch nie vernahm und nach dem er vergebens die Literaturgeschichten und Nachschlagebücher durchsuchen würde. Der Name lautet: Wilhelm Treunert.

Wenn er selbst auferstünde und sein eigener Leser würde, gewiß der schlichte Mann schüttelte sein breitgestirntes Haupt und seinem volllippigen, einst so liederreichen Munde entströmte ein: „Zuviel, Ihr Freunde, zuviel!“ Aber trotz dieser starken Ueberschwenglichkeit einer liebevollen Pietät war immerhin dieser Wilhelm Treunert eine echte Poetennatur. Und wenn nach einem, wenn wir nicht irren, Goethe entstammenden Ausspruche jedes gute Gedicht ein Gelegenheitsgedicht ist, so war er auch ein guter Dichter, der sich den unbekannten und namenlosen Schöpfern unserer Volkslieder würdig zugesellt. Dann aber – und daß dem also sei, davon hoffen wir den Leser noch zu überzeugen – ist es gerecht, daß die Nachwelt mehr von ihm erfahre, als sie seither wußte, und die „Gartenlaube“ wieder eine jener stillvergessenen Ehrenschulden abtrage, deren sie schon so viele gezahlt.

Daß Treunert nicht ein großer Dichter wurde, daran ist neben der Bescheidenheit seines eigenen allem Vordrängen abholden Wesens vielleicht nur das Eine schuld, daß ihm, „des Volkes armem Sohne“, jene geistige Durchbildung versagt blieb, deren selbst das größte Genie zu einem wahrhaft vollendeten Schaffen nicht entbrechen kann.

Es sind überhaupt nur – die Masse thut es ohnedies nicht – drei Bändchen Gedichte und ein „Rundgemälde von Jena“, eine größere Dichtung in vier Gesängen, welche Treunert schüchtern in die Welt gehen ließ. Das erste erschien 1836 auf Andrängen von Freunden und Gönnern, das zweite 1852 in Folge eines ehrenden Nachrufs der Dorfzeitung, welche den Dichter bereits den Todten zugesellt hatte, um, wie er sagt, kund zu thun, daß er noch lebe, und das dritte 1862 als sein wahrer Todesstrauß, besorgt von Freundeshand kurz nach des Dichters Ableben. Die ganze Sammlung trägt den Titel „Mein Gärtchen an der Saale“. Wenn darin auch nicht, wie der Dichter meint, „schön’rer Zone

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_268.jpg&oldid=- (Version vom 22.4.2019)