Seite:Die Gartenlaube (1875) 341.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


nicht, daß ich fast jede Nacht bis zwei Uhr arbeiten mußte, um nur Alles zu bewältigen, was sich anhäufte. Nur als eines Tages die Cousine fortgegangen war, und als später, anstatt ihrer, ein Brief kam, der uns ein kurzes Lebewohl sagte, da konnten wir ihm dies letztere Ereigniß nicht verschweigen, aber es machte, ganz gegen meine Befürchtungen, auf ihn keinen betrübenden Eindruck.

‚Das arme Kind!‘ sagte er mit abgewandtem Gesicht; ‚ich habe ihr keine Zeit gelassen, über das eigene Empfinden sich Rechenschaft zu geben. Malwine war mir dankbar und hielt vielleicht etwas von mir, aber – geliebt hat sie mich nie.‘

Diese Worte machten mich einen Augenblick lang fast muthlos. Also vergeblich, ganz vergeblich das ungeheure Opfer! Das Schicksal hatte Alle zugleich betrogen.

‚Was schreibt sie?‘ fragte Hermann.

Ich raffte mich gewaltsam auf und reichte ihm den Brief. Der arme Sterbende sah nicht, was in mir vorging. Für ihn hatte ich immer ein ruhiges Antlitz.

Malwine schrieb, daß sie es nicht ertragen könne, so thatlos anderer Leute Brod zu essen, daß sie Hermann geborgen wisse und selbst in der Residenz ihr Schicksal zu befestigen suchen werde. ‚Ihr seid mich gern los,‘ schloß sie den Brief: ‚und ich gehe lieber – wollte Gott, wir wären einander nie begegnet!‘

Das war Alles: kein liebevolles Wort, keine Bitte, kein Gruß fand sich mehr. Hermann ließ das Blatt aus der Hand fallen und lag stundenlang regungslos, als sei das Leben schon entflohen. So hatte ihn diejenige, um deren willen er die Ruhe seines Gewissens für immer verscherzt, jetzt auf dem Sterbebette kaltblütig verlassen, ohne auch nur ein flüchtiges Bedauern zu empfinden. Auch mit mir sprach er nicht weiter darüber, nur die wenigen Worte voll schwerwiegender Bedeutung hörte ich von ihm: ‚Hanne, Du bist gerächt.‘ –

Sein Ende nahte mit schnellen Schritten heran. Er wußte es und war damit innig zufrieden. Wir behielten Zeit genug, uns gegeneinander auszusprechen, bevor der Tod mit leiser Hand die müden Augen schloß; ich durfte ihm noch, bereuend aus voller, geläuterter Seele, eingestehen, daß ich die schroffe eigensinnige Härte von damals längst erkannt, daß ich seitdem demüthig und sanft geworden.

Und als dann der letzte Kampf herannahte, im September an einem Sonntagmorgen, während die Kirchenglocken leise verhallten, da bettete ich zum ersten Male wieder Hermann’s theures, geliebtes Haupt an meine Brust, da schlang ich die Arme um den Mann meiner Jugend und flüsterte ihm von einer Liebe, die über Grab und Tod hinaus von Seele zu Seele unvergängliche Bande webt, Zeit und Ewigkeit leise vereinend.

Er ist lächelnd gestorben, versöhnt mit sich und Eins mit mir, während der Wind das gelb gewordene Sommerlaub spielend emportrug, und die Kirchenglocken verklangen, jetzt, wo unsere Seelen vermählt waren für die Ewigkeit, im schöneren, heiligen Sinne des Wortes.

Mir war es, wie wenn mein Hochzeitstag gekommen, doch und doch nach langem, schwerem Traume. Ich habe Hermann in den Sarg gelegt, ohne zu weinen.“


So erzählte die Großtante.

Der Regen hatte aufgehört, und die Sonne schien goldig herab auf den Maienglanz der verjüngten Schöpfung. In der Linde vor dem Fenster sangen die Spatzen mit leisem Zwitschern ein Liebeslied.

Mathilde sah es nicht, daß in der offenstehenden Thür des Nebenzimmers ein junger Mann lehnte und sie voll Zärtlichkeit anblickte, längst schon, ehe noch die Greisin geendet. In ihren Augen schimmerten helle Thränen, und ihre frischen Lippen drückten sich auf die welke Hand der Alten.

„Großtante,“ sagte sie leise, mit bebender Stimme, „ich danke Dir für das Opfer, welches Du mir gebracht. Ich will den Eigensinn zu bekämpfen suchen, und –“

Die Achtzigjährige erhob sich, das schluchzende Mädchen in ihren Armen emporziehend, und winkte lächelnd dem halbversteckten Lauscher.

„Sag’ es dem da, mein Liebling! Er wartet schon lange auf ein freundliches Wort.“

Ueberrascht blickte Mathilde zur Thür und in die Augen Georg’s, der es doch nicht über sich vermocht hatte, „heute nicht wiederzukommen“. Jetzt breitete er stumm die Arme aus.

Die Vogelstimmen jubilirten im Chor, und an den Glücklichen vorüber verließ die Greisin unbemerkt das Zimmer. Sie wollte jetzt nicht lauschen, nicht wissen, was drinnen geflüstert wurde, zwischen Kuß und Kuß.

K. Horstemann.



Aus dem Bereiche des Postwesens.
I.

Alljährlich zu bestimmter Zeit – gleich dem Mädchen aus der Fremde – erscheinen inhaltreiche, nach einer festen Regel und nach den Principien der neueren wissenschaftlichen Statistik aufgestellte Uebersichten über den Umfang und das Wachsthum des Postverkehrs. Selbst ein Product emsiger und mühevoller Arbeit, welche von der obersten Reichs-Postbehörde in Berlin geleitet wird, stellen diese Uebersichten in einer Unzahl von Ziffern die noch gewaltigere Thätigkeit unserer Postanstalten für die rückliegende Jahresperiode dar, gewissermaßen ein in Lapidarschrift gefaßtes Zeugniß von der kaum übersehbaren Fülle geistiger und materieller Arbeit, welche auf den ausgedehnten Lebensgebieten eines großen Volkes rastlos und unaufhörlich sich vollzieht. Die Architectur dieser Zahlen, so unfaßbar sie anfangs dem unkundigen Auge erscheinen mag, ist doch kaum weniger kunstvoll als die Gliederung einer Spitzbogen-Façade venetianischer Paläste, die sich im Wasser der Lagunen spiegelt, oder als die Filigranstructur der gothischen Dome und Hallen Flanderns. Wie jene schlanken Pfeiler und durchbrochenen Thürme, welche den Reichthum und die glänzende Farbenpracht ihres Zeitalters den Nachkommen in so unvergänglichen Zügen überliefern, zum Himmel emporragen, so bekundet die aufsteigende Linie dieser bedeutsamen Ziffern in nicht weniger monumentaler Klarheit den Aufgang und die Culturblüthe einer Nation, während da, wo niedrige Ziffern erscheinen, entweder ein Stillstand in der Entwickelung eingetreten ist, der auf den nahen Niedergang der Cultur schließen läßt, oder überhaupt die düsteren Schatten der Barbarei noch nicht vom Lichte der Bildung und Gesittung verscheucht worden sind. Beim Anblicke dieser das Leben selbst in seinen zahllosen Verästungen darstellenden Ziffern wird man des Goethe’schen Wortes eingedenk, mit dem Mephistopheles die Gedankenarbeit charakterisirt:

„Wo Ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber, hinüber schießen,
Die Fäden ungesehen fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.“

Der Tritt, welcher tausend Fäden regt, ist hier der Gedanke und sein Ausdruck: das geschriebene Wort; die Schifflein sind die kaum von der Außenwelt wahrgenommenen Massen der Postsendungen, die in tausend Verbindungen herüber und hinüber fließen, geregelt von einem Schlage, dem Geiste des Fortschritts, dem Genius unaufhaltsamer Entwickelung, dessen Walten die Arbeit der Menschheit inspirirt.

In der That hat die Post einen schönen, herrlichen Beruf zu erfüllen, den nämlich: alle jene tausendfachen Fäden, welche die Menschen an einander ketten, zu knüpfen, zu erweitern und zu erhalten. Daraus ergiebt sich ihr hoher Werth vom allgemein menschlichen Standpunkte. Mit gleicher Gewissenhaftigkeit, gleicher Sorgfalt leiht sie ihre Dienste dem Gedanken des einsamen Forschers wie dem Pompe der großen Haupt- und Staatsactionen, der mühevollen Arbeit des Handwerkers ebenso gut wie der tollen Walpurgisjagd der mit Millionen spielenden Börse oder dem gewaltigen Massenverkehre der Handelsverbindungen und der Industrie; sie dient dem Bettler wie den Mächtigen der Erde; denn sie kennt weder den Unterschied der geistigen noch der materiellen Ueberlegenheit; sie achtet selbst das Kleinste nicht für zu gering.

Von diesem Gesichtspunkte aus ist dem durch die Post vermittelten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_341.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)