Seite:Die Gartenlaube (1875) 386.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

die Rede sein, wenn die Gesellschaften durchschnittlich etwa neun Zehntel der ausgeschlachteten Parcellen auf dem Halse behielten, und wenn diese Parcellen heute als Baustellen überhaupt unverkäuflich sind?

Die Thaten und Schicksale der zahllosen Baugesellschaften und die Wunden, die sie dem Publicum geschlagen, das Unheil, welches sie in finanzieller und volkswirthschaftlicher Hinsicht angerichtet haben, soll im nächsten Artikel geschildert werden. Hier sei nur noch bemerkt, daß mit dem Gründungsschwindel auch die „Wohnungsnoth“ aufgehört hat. In Berlin, wie in Wien war die „Wohnungsnoth“ nur ein künstliches Product. Seit dem „Krach“ fallen in beiden Städten die Miethen bedeutend, haben Wien und Berlin wieder Ueberfluß an Wohnungen, besonders an größeren und mittleren.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.
3. Im Kloster.

Geeigneter für Solche, welche fernab von dem Getriebe der Welt lernen sollten, den Blick auf’s Ewige zu richten und das Innenleben des Geistes vor Allem zu pflegen, konnte kaum ein Ort gefunden werden, als das am Nordende des Schwabenlandes gelegene Kloster Schönthal, in welches Mitte October 1840 wieder sechsundvierzig Rekruten der protestantischen Theologie „eingeliefert“ wurden. Ueberaus lieblich und reizend ist das enge Thal mit seiner munteren, eben dort an Krümmungen reichen Jaxt, die sich bald durch Wiesen biegt, bald an steilen Felsabhängen bricht, mit seinen sanften, abwechselnd von Reben und Buchenwäldern umsäumten Hügeln, mit seinem Berlichingen und Jaxthausen, Dorf und Schloß, das noch Götzen’s eiserne Hand und die Waffenrüstung seiner Gesellen zeigt. Aber einsam war es dort, schrecklich einsam. Nur einmal in vier Jahren regte sich’s von Leben, wenn wieder eine neue Promotion einrückte und der Höhenzug der fränkischen Terrasse von Heilbronn her mit Kutschen und Wagen bedeckt war, in welchen die Väter aus allen Theilen des Landes die Söhne einlieferten. Selten verirrte sich sonst ein Wanderer oder Reisewagen in diese abseits gelegene Idylle. Unsern Verkehr mit der hinter uns liegenden Welt vermittelte ein Bote, der gewöhnlich zweimal in der Woche, am Mittwoch und Samstag, nach dem sieben Stunden entfernten Heilbronn fuhr und uns von da die ersehnten Briefe und andere Sendungen der lieben Eltern brachte. Wie horchte man auf den Zehen, wenn an solchen Abenden die Namen ausgerufen wurden, für welche ein Brief oder ein Paket aus der süßen Heimath angelangt war! Wie zerriß man fast den dicken Boten – den wir wegen seines wälzenden Ganges Wargel nannten – wenn die Zeit da war, da man die von sorgsamer Mutterhand gefüllten Weihnachtskisten erwartete!

Das Kloster stand einsam in einer Einbiegung des Hügels, von welchem die Schatten des Buchenwaldes auf seine Ostseite fielen – ein stattlicher Bau, würdig der alten reichsfreien Benedictinerabtei, welche über vierzehn Dörfer beherrscht hatte, an die schöne, imposante Kirche angebaut, von einer hohen Ringmauer umschlossen und im Halbkreise von einem Dutzend Wohnungen umgeben, die einst ohne Zweifel von Klosterleuten bewohnt waren. Und es sah auch Alles noch klösterlich aus. Die alten Vögel waren längst aus dem Neste gestoßen, aber Alles erinnerte noch an sie: wenn man durch das hohe, von schlanken Säulen getragene Portal eingetreten war, der Kreuzgang, der zur Kirche führte, mit den Leichensteinen von Aebten und Rittern; der dunkle Speisesaal zur Seite; der stille geräumige Garten, in welchem wohl mancher Thomas a Kempis vom Fasten und Beten und Psalmiren sich erholt hatte; über allen Thüren die Inschriften in lateinischen Distichen, die oft boshaft genug lauteten, schlechte Witze über Arius, den Erzketzer und andere Feinde der Kirche; das Dorment (der lange Gang den alten Zellen entlang) mit der Glocke, die bald zu den Studien, bald zum Beten, bald zum Essen läutete.

Auch, was die Strenge der Lebensordnung betrifft, hatte das alte, einst dem „geistlichen Leben“ geweihte Haus über das neue Geschlecht jugendlicher protestantischer Ketzer nicht zu klagen. Die Klosterregel war streng genug und – sie wurde gehalten. Die Ordnung des Tages war diese: Um fünf ein halb Uhr im Winter, um fünf Uhr im Sommer läutete die Glocke zum Aufstehen, eine Viertelstunde darauf zum Gebet, Preciren genannt, wobei ein Choral mit Clavierbegleitung gesungen, ein Gebet aus Knapp’s Liederschatz gesprochen, ein Abschnitt aus der Bibel gelesen wurde (wir lasen so in vier Jahren die ganze Bibel, nur mit Auslassung weniger, vom leitenden Professor angezeichneten Abschnitte, zweimal durch). Nach der Morgenandacht hatten wir Zeit zu Privatarbeit, welche der je über zwei Zimmer gesetzte Studienaufseher, Repetent genannt, überwachte. Um sieben Uhr Collegien, vier Stunden des Vormittags, meistens durch eine Turnstunde unterbrochen. Nachmittags von zwei Uhr an noch einmal zwei Unterrichtsstunden, dann wieder Privatstudien unter Aufsicht bis zum Nachtessen; um neun Uhr Abendandacht, wie Morgens. Um zehn Uhr mußten die Lichter gelöscht und Alles im Bette sein. Der Sonntag war soweit milder, daß sich die Zahl der Unterrichtsstunden auf zwei beschränkte, eine Religionsstunde nach dem öffentlichen Gottesdienste Vormittags, und eine Stunde für Lesen und Declamiren deutscher Gedichte Nachmittags; dafür war aber die Privatarbeitszeit um so ausgedehnter.

Für „Freiheit und Zeitvertreib an schönen Sommerfeiertagen“ blieb dieser Jugend wenig Gelegenheit. Die einzige Zeit, welche das ganze Jahr über zum Spazieren im Freien gewährt wurde, war die Stunde von ein bis zwei Uhr; dazu kamen im Sommer an den Abenden anderthalb Stunden bis neun Uhr, auch in den heißesten Tagen eine besondere Badestunde. Sonn- und Feiertage machten davon keine Ausnahme. Die Spaziergänge bewegten sich daher immer im gleichen, engen Kreise. Weit über eine halbe Stunde durfte man sich nicht hinauswagen. Landschaft und Menschen blieben uns fast unbekannt. Was wir davon kennen lernten, verdankten wir den eintägigen oder halbtägigen Ausflügen, welche wir, nachdem wir sie oft mühsam genug der Strenge des Vorstehers, Ephorus genannt, abgerungen hatten, unter der Aufsicht der Repetenten nach Künzelsau, Wimpfen, Mergentheim etc. unternahmen.

Ueppigkeit und sinnliche Genüsse verdarben unsere Jugendzeit nicht. Tabak und Wirthshaus war streng untersagt, dem Achtzehnjährigen später so unerbittlich wie früher dem Vierzehnjährigen, und der Famulus durchstreifte argwöhnisch die Gegend, zu suchen, wen er verschlinge. Der Klostertisch kannte weder Weine noch Forellen. Morgens eine Wassersuppe, Mittags Suppe, Fleisch und Gemüse, Abends meistens noch etwas Fleisch, auch Brod im Ueberflusse, wovon wir in theuren Zeiten freiwillig die Hälfte an die Armen der Umgegend vertheilten. Die Küche war durchschnittlich schlecht, denn die Speisemeister sorgten in allen diesen Anstalten für ihren Sack, aber dennoch blieb man gesund und gedieh. Am Ausgang der Klosterpforte saß Sommer und Winter die alte Obstfrau von Berlichingen und bot uns Etwas zum Nachtisch an; man nahm schon aus Mitleid und Freundschaft, soweit die zwei Gulden Taschengeld reichten, welche der Staat neben freier Kost, Logis und Unterricht jedem Zöglinge monatlich ausbezahlte als Entschädigung für den Wein, der in der ursprünglichen Seminarordnung vorgesehen war, aber nicht gereicht wurde.

Das war ein Leben in spartanischer Strenge und Einfachheit. Unsere Promotion galt als eine mittelgut begabte – und die Folgezeit hat dieses Urtheil der Lehrer bestätigt – aber sie hatte das Lob der tugendhaftesten, die je ein Seminar passirt hatte. Ich weiß Keinen, der in den vier Jahren das Verbot des Rauchens oder Wirthshausbesuches übertreten hätte. Wir hatten keine Wilhelm Zimmermann, Friedrich Vischer, David Strauß, Paul Pfizer, wie jene Promotion von Blaubeuren, von welcher Strauß in seinem „Christian Märklin, ein Lebens- und Charakterbild aus der Gegenwart“ ein so anziehendes Bild entworfen hat, aber „das himmlische Behagen“ schallte auch nicht, und wohl eben darum nicht, aus Wein- und Bierkellern, wie dort; freilich hätte bei uns auch kein Lehrer das Auge zugedrückt

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_386.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)