Seite:Die Gartenlaube (1875) 459.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Halb Drei.

Es werden die letzten Speculationscourse notirt. Der Portier läutet die Börse förmlich aus. Er treibt mit der Glocke die Jobber vor sich her, und hinter ihm dringen Weiber mit Besen und Schaufeln ein, um den Saal zu reinigen.

Während der Gründerzeit währte die Börse bis 3 Uhr, und die Mittelcourse wurden erst um 2½, ja um 2¾ veröffentlicht, was den Herren Berichterstattern der Presse häufig Anlaß zu Klagen gab, denn der Courszettel konnte nur mit Mühe und Noth noch in die Abendzeitung aufgenommen werden.




Einer vom gescheiterten „Schiller“.

Herr Franz Otto Schellenberg in Ebersbach bei Glauchau ist Einer der wenigen aus dem Schiffbruche des Hamburger Postdampfers „Schiller“ am 7. Mai dieses Jahres geretteten Passagiere; ihm verdanken wir die nachstehende Schilderung seiner Reise, des Schiffes und des Unglücks.

„Am 27. April Nachmittags drei Uhr verließ ich unter dem Jubel meiner Freunde den Landungsplatz in Hoboken, um zur Reise in die deutsche Heimath den ‚Schiller‘ zu besteigen. Wir fuhren langsam den North-River herab und gelangten gegen sechs Uhr nach Sandy Hook. Da das Schiff wegen seiner starken Belastung zu tief ging, um die bekannte Barre des New-Yorker Hafens bei dem niedrigen Wasser zu passiren, so mußte Anker geworfen und die Hochfluth des nächsten Vormittags abgewartet werden; gegen zehn Uhr wurden die Anker gehoben, und bei einer leichten Brise dampfte das stolze Fahrzeug in die hohe See.

Wir hatten, der Jahreszeit angemessen, eine rauhe Fahrt. Das Schiff lief sehr gut; war es doch nach Bau, Ausrüstung, Maschinerie und Equipage ein Postdampfer erster Classe. Durchschnittlich legten wir über dreihundert Meilen per Tag zurück. – Weniger erfreulich waren mir andere Wahrnehmungen; namentlich wandte ich den Rettungsapparaten meine Aufmerksamkeit zu und kam zu der – leider später bewahrheiteten – Ansicht, daß die sechs großen Boote in einem Falle der Noth kaum würden benutzt werden können. Die Krahne, an welchen sie hingen, waren jedenfalls seit dem Baue des Schiffes nicht gedreht worden und darum so eingerostet, daß ihre Handhabung fast unmöglich sein mußte, auch wenn nicht außerdem noch die Taue, welche durch einen Flaschenzug laufen müssen, um die Boote zu halten und niederzulassen, so dick mit Farbe überschmiert gewesen wären, daß sie nicht in den Kloben gehen konnten. Bei zwei kleinen Booten, welche vom Capitain und von den Matrosen häufig im Hafen gebraucht worden waren, fand sich Alles in bester Ordnung.

Dieselbe dicke Farbenschmiererei machte die Kanone unbrauchbar; hier war der Hahn, der, durch die Schnur angezogen, das Zündhütchen zu treffen und dadurch den Schuß zu entladen hat, so fest mit Farbe verklebt, daß ich ihn mit aller Gewalt weder auf- noch zubringen konnte. Auf welche Weise dennoch die Nothschüsse möglich gemacht wurden, habe ich leider bald genug zu erzählen.

Ich bin schon viel zur See gewesen, aber noch immer habe ich gesehen, daß bei ruhiger Fahrt die Boote herabgelassen und die Kanonen abgeschossen, also beide probirt wurden, um ihrer Brauchbarkeit jederzeit sicher zu sein. Diese Vorsichtsmaßregeln wurden auf dem ‚Schiller‘ nicht angewendet.

Vom 6. bis zum 7. Mai hatten wir dreihundertfünfundvierzig Meilen zurückgelegt. Der 7. Mai war ein sehr nebeliger Tag; nur zwischen ein und zwei Uhr Mittags brach die Sonne durch, und in dieser Zeit stellte der Capitain Beobachtungen an.

Gegen Abend befanden sich sehr viele Passagiere auf dem Verdeck, denn es war uns gesagt worden, wir würden gegen zwölf Uhr Land sehen. Ich für meine Person wollte lieber auf diesen Anblick verzichten, als aufbleiben; ich hatte den ganzen Tag auf dem Verdecke zugebracht und war sehr müde. Dennoch bat ich einen Freund, mich, wenn das Land wirklich in Sicht sei, zu wecken, denn nach so langem Schaukeln auf den Wogen freut man sich doch, den Blick wieder auf etwas Festes zu richten.

Auf dem Wege nach meinem Zimmer war ich am Steuerhause vorbeigegangen, um nach der Uhr zu sehen. Es war genau neun Uhr fünfundvierzig Minuten. Ich war eben im Begriffe, mich auszukleiden, als ich durch ein Gerassel aufgeschreckt wurde, welches ich anfangs für das Geräusch beim Herablassen der Ankerkette hielt. Aber doch sogleich Gefahr ahnend, eilte ich wieder dem Verdecke zu. Auf der Treppe verspürte ich mehrere kräftige Stöße des Schiffes, und nach meinem ersten Schritte oben erfolgte der letzte und heftigste Stoß: wir saßen fest. Ich glaube, das Schiff ist mehrere Hundert Fuß weit über Felszacken hingefahren, was das Rasseln und Stoßen verursachte, bis es beim letzten Stoße an einen hohen Felsen anrannte, welcher nun an der linken Seite desselben mehrere Fuß hoch über das Wasser aufragte. Gleich darauf ertönte die Dampfpfeife, und ich hörte, wie der Dampf abgelassen wurde.

Die Verwirrung war im Augenblicke sehr groß, denn Alles, was eben munter war, stürmte auf das Verdeck, und Andere, die sich daselbst befunden hatten, eilten zu den Zimmern und Kajüten hinab, um die Ihrigen zu wecken und zu retten. Ich stand in der Nähe der Brücke, als die Feuerleute aus ihren Räumen heraufkamen und meldeten, daß unten das Schiff schon voll Wasser sei. Da mein Zimmer vor der zweiten Kajüte, eine Treppe über dem Zwischendecke, lag, so stieg ich eiligst noch einmal hinab, um einen Rock anzuziehen. So rasch dies geschah, so sah ich doch, als ich wieder aus meinem Zimmer herauskam, das Zwischendeck schon voll Wasser. Ich glaube, daß viele Personen, welche bereits im Schlafe lagen, dort jetzt schon ihren Tod gefunden hatten, und wenn dies geschah, dann sind sie von den vielen Unglücklichen als die Glücklichsten zu preisen – gegenüber den furchtbaren Todesschrecken der Anderen, deren Zeuge ich bald werden sollte.

Beim Heraustreten aus meinem Zimmer fiel mir ein, daß da, wo die erste Treppe zum Zwischendeck führt, an der Decke sich ein Gefach befindet, in welchem die Rettungsgürtel (life preservers, Lebensretter, Schwimmgürtel) aufbewahrt wurden. Vergebens versuchte ich dasselbe zu öffnen. Auch hier waren durch öfteres Ueberstreichen mit Farbe nicht nur die Ritzen, sondern auch die Charniere der Thür so verklebt, daß mir und meinen herzugekommenen Freunden nichts Anderes übrig blieb, als das gewaltsame Erbrechen der Thür. Während nun diese Gürtel vertheilt wurden, kehrte ich mit dem von mir behaltenen in mein Zimmer zurück. Ich hatte nämlich beim Umbinden desselben überlegt, daß der Rock mich im Schwimmen hindern werde; deshalb zog ich diesen wieder aus und hing die Decken meines Bettes um die Schultern. Als ich so ausgerüstet wieder auf das Verdeck kam, lachten mich meine Freunde über meinen Aufzug aus, so sicher fühlte man sich wieder in diesem Augenblicke.

Während wir nämlich vor dem Rettungsgürtel-Gefache beschäftigt waren, hatten die Officiere und der Capitain Thomas alles Mögliche aufgeboten, um die Passagiere zu überreden, daß „der Unfall nichts zu bedeuten habe“, sondern daß das Schiff ruhig bis zum Morgen hier liegen bleibe und dann Alles an das nahe Land gebracht werde. Ob überzeugt oder nicht, die Mehrzahl der Passagiere kehrte in die beiden Kajüten zurück, viele hatten sie noch gar nicht verlassen, weil dort, wo bis jetzt noch kein Wasser eingedrungen, allerdings auch von Gefahr nicht viel zu sehen war. Dennoch soll, wie ich gehört zu haben glaube, wenigstens die zweite Kajüte von außen verschlossen worden sein.

Mit einigen jungen Männern, welche ebenfalls keinen Glauben an die verheißene Sicherheit hatten, war ich auf dem Verdeck geblieben. Hier sahen wir, wie ein Officier mit mehreren Matrosen auf dem Vorderdeck die Anker löste; sie brauchten nur wenige Fuß Kette, um Grund zu finden. Es mochte etwa zehn Uhr geworden sein. Von da bis halb zwölf Uhr, also volle anderthalb Stunden, lagen wir ganz ruhig. In dieser langen Zeit hätten alle bis dahin noch Lebenden in die sechs großen, sehr tüchtigen Boote gerettet werden können, wenn dieselben benutzbar gewesen wären und wenn man überhaupt zu rechter Zeit Anstalt dazu getroffen hätte. Jedenfalls würden sie ebenso

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_459.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)