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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Motive der alten Lieder wurden unverständlich. Man ließ fort, was nur ihnen gedient hatte, und was übrig blieb, waren die zerschnittenen Glieder eines Leibes, welchem die Seele entflohen.

Dennoch sind uns Theile des altgermanischen Epos in verhältnißmäßig unversehrter Form erhalten geblieben. Die Rettung der bedeutsamsten Stücke verdanken wir einer wundersamen Fügung, welche dem Geiste des germanischen Heidentums, als es der siegreichen Kirche bereits sterbend zu Füßen lag, eine Stätte der Zuflucht eröffnete, wo er seine letzten Lebenstage verwenden durfte, in stiller Sammlung seine Denkwürdigkeiten zu schreiben und uns einen Rest seines reichen Schatzes aufzubewahren als ein heiliges Vermächtniß für die Zeit unserer Auferstehung.

Im skandinavischen Norden hatte sich der altgermanische Volkszustand, eine Art ziemlich loser und nicht selten durch innere Kriege der Clanschaften zerrissener Föderation aristokratischer Republiken mit erblichen Stammkönigen, aber entscheidend über diesem stehenden Allthing der freien Männer, und mit dieser Verfassung auch die alte Religion, am längsten erhalten. Die Poesie stand in üppiger und verbreiteter Blüthe, und manches aus jener Zeit gerettete Skaldenlied von bewunderungswürdiger Kunstvollendung zeigt uns das vielgeschmähte „Heidenthum“ mit seiner grandiosen und tiefsinnigen Weltanschauung so fein vergeistigt und auf so hoher Bildungsstufe angelangt, daß dagegen diejenige des Mittelalters als finstere Barbarei erscheint. Aber auch dort wurde dem Christenthum gewaltsam der Boden bereitet, indem sich die zelotischen Missionäre und Geistlichen zur Unterjochung des Volkes verbanden mit den mächtigsten, nach Alleinherrschaft lüsternen Stammkönigen. Als nun ziemlich gleichzeitig, im letzten Drittel des neunten Jahrhunderts, in Dänemark Gorm der Alte, in Schweden Eirik Eymundarson, in Norwegen Harald Harfagr (das ist Schönhaar) die altgermanische Stammverfassung brachen und die Monarchie mit ausgebildetem Lehnswesen begründeten, wie es Karl der Große in Deutschland und Frankreich gethan hatte, da mochten sich, nachdem diese Könige nach langen Kämpfen ihre Staatsstreiche mit Hülfe der Kirche siegreich durchgesetzt hatten, die edelsten Geschlechter des Landes weder dem Scepter der Gewaltherren noch dem Krummstabe der Bischöfe beugen. Sie wanderten aus und fanden eine Freistatt für ihre alte Verfassung, ihren alten Glauben am nördlichen Polarkreise, auf der Insel Island, der ultima Thule der Alten.

Im Norden und Osten umdrängt von den Eismassen des Polarmeeres, wird diese Insel einigermaßen bewohnbar nur durch den letzten Rest von Wärme, den ein Arm des Golfstroms aus dem Heizkessel für Europa, dem mexicanischen Meerbusen, emporführt bis zu ihren westlichen und südlichen Küsten. Gebirgsmassen, hoch emporragend aus Nebel und Wolken, bedeckt mit ewigem Schnee und Gletschern, schimmern dem Seefahrer schon aus der Ferne entgegen. Erloschene Vulcane erheben sich wie Riesen der Vorwelt in Eispanzern, die jedem Sonnenstrahle widerstehen. Erstarrte Lavaströme thürmen ihre Schollen über einander in phantastischen Gestalten und unabsehbarer Ausdehnung. Weithin vernehmlich donnert noch jetzt der Hekla und sprüht hochaufwirbelnde Aschenwolken und die unerloschene Gluth des Erdinnern hinaus in eine Wüste von Schnee und Eis. Mächtige Kochbrunnen, Geisir genannt, schießen gigantische Schaumgarben siedend heißen Wassers in die Luft. Bis zu zehn Fuß dick erhebt sich der flüssige Stamm jetzt zu Thurmeshöhe, gekrönt mit einem Wipfel von ungeheuern Dampfwolken. Im nächsten Augenblick, auf einen dumpfen Schlag in der Tiefe, stürzt die Schaumsäule zusammen in sich selbst und ist wie auf ein Zauberwort verschwunden, wie eine wundersame Traumgestalt beim ersten Strahle des Morgens.

Wenn das Treibeis von Spitzbergen, wie es zuweilen geschieht, die nördliche Küste bis in den Juli, ja, bis in den August umlagert hält, dann hat die Insel, oder wenigstens ihr nördlicher Theil, gar keinen Sommer und nach kurzer Unterbrechung des Frostes durch stürmisches Thauwetter und Regen geht ein Winter über in den andern. Sonst folgt dem langen Winter ein kurzer Sommer, der aber auch kaum etwas anderes ist als ein süddeutscher März oder norddeutscher April; denn fortwährend wechselt der Sonnenschein mit Regen- und selbst Schneeschauern. Dazwischen toben Stürme von verheerender Gewalt, die den Reiter vom Pferde werfen, die Oberfläche des Meeres in eine Staubwolke zerpeitschen und sie als einen Sprühregen von Salzwasser emportreiben bis auf zweitausend Fuß hohe Berge.

Auf der Höhe des Jahres steht eine dunkelroth glühende Sonne selbst um Mitternacht am nördlichen Horizont. Aber nur in günstigen Jahren besitzt dieser lange Tag die Kraft, ein kümmerliches Gerstenfeld so weit zu reifen, daß man die Körner mahlbar machen kann, indem man die geschnittenen Aehrenbündel auf südwärts gerichteten Trockengestellen an der Mittagssonne nachdörrt. Ende Septembers beginnt wieder der Winter mit undurchdringlichem Schneegestöber, um für sieben bis acht Monate die ganze Insel von den Gebirgen bis zum Strande so hoch zuzudecken daß nur hin und wieder eine schwarze Lavaklippe, überzogen mit grauem Moose, nirgend aber ein Strauch, ein Halm daraus hervorragt und daß die Menschen oft ungehindert wegschreiten hoch über den Dächern ihrer eingeschneiten Häuser. Nur noch das Ren findet dann seinen Weg durch die Winterwüste und weiß sich das karge Moos zu seiner Nahrung aus dem Schnee hervorzuscharren. Während der kurzen Mittagsdämmerung, die dann den Tag bedeutet, umschwärmen Schaaren von Seevögeln die eisklirrende Küste, laut schreiend und gegen den Sturm ankämpfend. Alles andere Leben schweigt. In der Nacht aber beginnt am sternenhellen Firmament das Nordlicht seinen zauberhaften Flammentanz. In wechselnden Farben zucken seine Strahlen zitternd auf und nieder vom braunen Grundbogen im Horizont bis zum Zenith und zeigen die starren Eisgefilde in geisterhaft unbestimmter Beleuchtung.

Dürftig, doch erhaben, mahnte diese Natur mit ihren gewaltigen Contrasten, mit ihrem Urfeuer und ihrem Eise, an die Geheimnisse der Schöpfung, an den Ursprung und das Ende der Dinge. Düster und grau sind ihre Farben; schroff kolossal, scharf beprägt mit dem Siegel der Zerstörung ihre Formen; nebelhaft und sturmzerrissen der stimmunggebende Himmel. Kein Fleck der Erde konnte im Menschengemüth eine mehr zutreffende Tonart anschlagen für die Geschichte verbannter Götter, für die Erinnerung an ihre vergangene Herrlichkeit, nachdem ihr Oberherr, vergleichbar den Titanen unseres Zeitalters, hier sein Sanct Helena gefunden hatte. Hier zerstreute die Phantasie kein Sinnenreiz; die öde Gegenwart ließ sie mit verdoppeltem Heimweh immer nur rückwärts blicken. Zu achtmonatlicher Wintermuße in verschneiter Hütte an die Lampe gebannt, wuchsen ihr bis in’s Riesige die Schwingen der Erinnerung zum Rückflug über Jahrtausende und von dieser letzten Rast im froststarrenden Eismeer bis zur sonnenglühenden Urheimath der Asen an den Abhängen des Himalaya und unter den Palmen an den Ufern der heiligen Ganga.

So ward Island ein Patmos des germanischen Heidenthums. Die Apokalypse seiner Vergangenheit hat es dort aufgezeichnet in den Büchern der Edda.

Ich habe versucht, die ernste Gedankentiefe, die düstere Erhabenheit der Poesie der Edda zunächst mittelbar anzudeuten durch ein landschaftliches Stimmungsbild des Bodens, auf den sie verpflanzt worden war aus Deutschland und Skandinavien, um sich hier noch einmal zu entfalten zur träumerischen Wunderpracht einer Nacht- und Nordlichtsblume des menschlichen Geistes. In den folgenden Briefen will ich Sie bekannt machen mit ihrem Hauptinhalt und denjenigen ihrer Gesänge, welche theils den Entstehungsgang des germanischen Epos offenbaren, theils selbst schon zum Nibelungen-Epos auf der Liederstufe gehören.



Die weißen Flecken unserer Landkarten.


Wir leben in einer Epoche, wo der Wunsch, die Oberfläche unseres Planeten, der Heimath und des Gefängnisses für Alles, was da lebt und webt, kreucht und fleucht, vollständig kennen zu lernen und so die „weißen Flecken“ unserer geographischen unserer Karten mehr und mehr zu tilgen, mit jedem Tage dringender wird. –

Regierungen, Gesellschaften, Privatpersonen wetteifern unter einander, Expeditionen nach den entferntesten Gegenden auszurüsten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_476.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)