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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Frohnveste entsprungen und flüchtig gegangen. Den suchen sie seit ein Paar Tagen in der ganzen Gegend herum, weil er in der Nähe zu Hause sein soll – es heißt, er sei ein Advocatensohn von … den Ort und den Namen hab’ ich vergessen.“

Er ging, die Bauern aber steckten die Köpfe zusammen und thaten klug und redeten leise, wie sie auch schon von der Geschichte gehört und wie es eine alte Prophezeiung gebe, daß einmal eine Zeit kommen werde, in der das deutsche Reich wieder einen Kaiser habe. Die Prophezeiung stehe gedruckt zu lesen in der „Sibylle Weis“ und was darin stehe, das sei unfehlbar und müsse in Erfüllung gehen.

Sie beachteten darüber nicht einen fremden Mann mit bleichem, eingefallenem Angesichte und in abgetragener städtischer Kleidung, der wankenden Schritts näher gekommen und auf den Stufen, über denen jetzt der Lindenschatten lag, vor Ermüdung zusammengebrochen war. Sylvest war der Einzige, der ihn wahrnahm; er beobachtete ihn einige Augenblicke, dann erhob er sich leise und trat ihm näher.

„Will sich der Herr nicht da herauf setzen auf die Bank?“ sagte er, auf das Geländer sich stützend. „Soll ich dem Herrn vielleicht einen Krug Bier bringen?“

Ueberrascht und beinahe erschreckt, hatte der Fremde emporgeblickt; als er in das offene Angesicht des Burschen und in sein treuherziges Auge sah, schwand seine Befangenheit. „Ich möchte wohl,“ sagte er mit tiefer, männlich klingender Stimme, „aber ich kann die Labung nicht bezahlen und will dankbar sein, wenn Ihr mir nur vergönnt, hier im Schatten auszuruhen. Ich habe einen weiten und bösen Weg gemacht.“

„Das sieht man dem Herrn ohne Zettel an,“ entgegnete Sylvest, „es muß wohl ein böser Weg gewesen sein, er hat ja nicht nur seinen Geldbeutel, sondern auch seinen Hut verloren. Aber auf einen Krug Bier für einen durstigen und müden Menschen darf’s nicht ankommen. Ich will ihm einen bringen und ein Stück Brod und Fleisch dazu.“

„Ich kann mich aber nicht aufhalten,“ sagte der Fremde unruhig, „ich bin auch noch nicht so ganz erschöpft und habe noch einen weiten Weg vor mir.“

Sylvest sah ihn noch einmal schärfer an. „Nehm’s der Herr nicht übel,“ sagte er dann, „aber ich mein’, ich könnt’s errathen, wer der Herr ist. Und wenn ich’s errathe, so thut’s mir leid, daß man auf ihn so Jagd macht, wie auf ein wildes Thier; sei der Herr aufrichtig! Ich verrath’ ihn nicht … ist er nicht mit in Frankfurt dabei gewesen und aus dem Gefängnisse ausgebrochen?“

Der Fremdling wollte aufspringen, aber seine wund gelaufenen Füße machten ihn wieder zurücksinken. „Nun denn,“ sagte er, „Du scheinst ein braver Bursche – ich will Dir vertrauen. Du hast es errathen … ich bin …“

„Schon gut,“ unterbrach ihn Sylvest rasch, „ich weiß jetzt schon, was ich zu wissen brauch’. Die Hauptsach’ ist, daß ich den Herrn den Leuten aus den Augen bring’, damit niemand auf einen Verdacht verfallt. Thun Sie nur jetzt Alles, was ich sag’, und sagen Sie zu Allem Ja! Ich will Sie für einen Cameraden ausgeben, den ich in Griechenland bei den Ulanen kennen gelernt hab’ und der in meiner Schwadron gewesen ist; damit werden wir schon durchkommen, hoff’ ich.“

(Fortsetzung folgt.)




Zur Erinnerung an Eduard Mörike.
Von Adolf Rümelin.

Am mittleren Neckar, gleichweit von Tübingen und Cannstatt entfernt, liegt die Oberamtsstadt Nürtingen. So sehr im Herzen des württembergischen Landes liegt sie, daß ein Fußgänger von dort aus an einem Tage durch alle vier nahe zusammentretende Regierungsbezirke des Königreichs seinen Weg nehmen und Abends wieder in Nürtingen sein kann. Der Neckar mit seinen Zuflüssen, die Alb mit ihren stolzen burggekrönten Häuptern, der Wechsel von Höhe und Thal, Acker, Wiese und Wald giebt der Gegend solchen Reiz, daß man sie mit Recht zu den schönsten Theilen Schwabens zählt. Auch in die Geschichte Württembergs ist der Name des Städtchens fast von deren Beginne an verflochten. Auf dem „Schloßberge“ hatten württembergische Herzoginnen ihren Wittwensitz, und in der Nähe, im hohlen Stein des malerisch gelegenen Dörfchens Hart soll Herzog Ulrich, der durch seine Kämpfe mit dem schwäbischen Bunde bekannt geworden ist, beschützt von dem „Pfeifer von Hart“, Zuflucht vor seinen Feinden gefunden haben. Die Muse hat die kleine Neckarstadt aus Hölderlin’s, des kühnen Feuergeistes, Munde gegrüßt, der viele Tage seines Lebens dort zugebracht hat und dahin, zerrütteten Geistes und mit verwildertem Aeußern, zu den erschrockenen Verwandten später zurückgekehrt ist. Auch Schelling, der Dichter unter den Philosophen, hat seine ersten Jugendjahre auf der altberühmten Nürtinger Lateinschule zugebracht, und endlich hat in der Stadt der jüngst zu Stuttgart verstorbene Dichter Eduard Mörike seinen Sitz für Jahr und Tag genommen. der Mann,

               „dem wahrlich die Muse
Heiter Lippen und Stirn’ und beide die glänzenden Augen
Mit unsprödem Kusse berührt,“

wie er selbst von seinem Landsmanne Hermann Kurz singt.

Der Reiz des Stilllebens und der herrlichen Gegend hat Mörike zur Zeit des deutsch-französischen Krieges nach Nürtingen geführt, nachdem er bisher im Winter zu Stuttgart, Sommers in Lorch, der Hohenstaufenstadt mit ihren schönen Wäldern, gelebt hatte. Die Erinnerungen seines eigenen Lebens mögen ihn in seinem Entschlusse bestärkt haben. Am Fuße der nahen Teck, in Owen, hatte er der Muse köstliche Erstlingsopfer gebracht, und in einem Pfarrhause auf den Höhen über dem Neckar hatte zuerst die Liebe tiefer sein Herz berührt, ohne der Verlobten ein anderes Loos als dasjenige der Friederike von Sesenheim zu bereiten.

„Rosenzeit, wie schnell vorbei
          schnell vorbei,
     Bist Du doch gegangen!“

In späteren Jahren schickte er wohl manchmal dem befreundeten Rector der Lateinschule liebliche Idyllen in elegischem Maße, um sie nicht ohne philologische Superrevision zu lassen, so z. B. seinen Besuch im Karthäuserkloster und Anderes. Wie sehr er aber in der Gegend von jeher selbst heimisch war, zeigen seine Poesien. Ein Hügel mit herzerfreuender Rundschau, die er im „Maler Nolten“ schildert, ist kein anderer, als das Geigersbühl bei dem nahen Großbettlingen. Der Lateinschule Nürtingens widmet er freundliche Disticha, und in der klappernden Neckarmühle läßt er den wandernden Schuster seines Märchens „das Hutzelmännlein“ mit den Zauberschuhen und dem „Klötzle Blei plei bei Blaubeura“, dem glücklich gefundenen zauberkräftigen Kreckenzahn, die letzte Nachtrast vor der Rückkehr nach Stuttgart bei Kartenspiel und geringem Schlummer halten. Ob er wohl damals ahnte, daß etliche Jahr später er selbst, der Liebling holder Geister, wenige Schritte von der Mühle die vorletzte Station seines Lebensweges beziehen würde?

In jenem Hause „an der Neckarsteig“ habe ich den Dichter manchmal besucht, und auch er ist, herzlich und freundlich wie er war, öfter zu mir in meine Wohnung oder in das Haus meiner Mutter gekommen. So gewaltig mich die Kriegs- und Siegestage ergriffen und mit ihren Eindrücken erfüllten, so unvergeßlich sind mir doch auch die stillen Stunden geblieben, die ich da mit dem Dichter hinbringen durfte. Und was ist natürlicher? Hatte ich doch längst zu der „stillen Gemeinde“ gehört, von der Friedrich Vischer in seinem Nachruf an Mörike’s Grabe sagte, daß sie sich labe und erquicke an des Entschlafenen wunderbaren, hellen und seligen Träumen und die hohe Weihe schaue in diesen Träumen. Wie oft im Freundeskreise oder als Lehrer im Unterrichte hatte ich seiner Poesie als eines zu wenig bekannten Kleinods, des Dichters als des trefflichsten unter den deutschen Lyrikern der Neuzeit gedacht! Und nun war mir die traute Gemeinschaft eines stillen Städtchens mit dem Manne beschieden, den auch dort nur Wenige in seiner dichterischen Bedeutung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_490.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)