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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

klarer energischer Geist, bis das Leben ihn aus seinen Fugen zu rütteln vermochte!

Gräber – nichts als Gräber um mich her! Und während ich darauf niederblicke, tauchen die sonnigen Prager Maientage vor vierzig Jahren in ihrer ganzen Frohmüthigkeit vor mir auf, und wieder umgaukelt mich wie ein lachender Sonnenstrahl das glückliche Kind Kathinka unter den knospenden Hollunderbüschen des tausendjährigen Judenkirchhofes zu Prag, und ich höre die wehmuthsvolle Stimme der schönen edlen Sabine flüstern: „Wo wird mein Grab dereinst gegraben werden? Wer wird mir ein Liebeszeichen auf’s Grab legen, wie der glücklichen Lea?“

Eine alte Collegin – dieses wehmüthige Erinnerungsblatt!




Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
8. „Berlin wird Weltstadt.“

„Berlin wird Weltstadt“ – dieses „geflügelte Wort“ – um hier, gerade nicht mit Vater Homer, aber doch mit Herrn Georg Büchmann zu reden – läuft schon seit 1848 und länger. Es ward meist im ironischen Sinne gebraucht, um die Mängel und Schattenseiten der Großstadt anzudeuten, die in vielen Stücken hartnäckig eine Kleinstadt blieb. Berlin konnte mit Paris oder gar London keinen Vergleich aushalten, auch gegen Wien stand es zurück, und selbst Städte wie Hamburg oder Dresden wurden ihm oft als Vorbild empfohlen. Erst nach dem Kriege von 1866, als sich mit dem reißenden Anwachsen die Auswüchse, Beschwerlichkeiten und Gefahren der norddeutschen Metropole fühlbar machten, fing man an, mehr im Ernste und nicht ohne Seufzen zu sprechen: „Berlin wird Weltstadt.“ Aber nicht lange, und das Wort wurde lebhaft aufgenommen, mit vollem Nachdruck, mit begeistertem Pathos wiederholt, wie eine Parole ausgegeben und eifrig verbreitet. „Berlin muß Weltstadt werden“ riefen die Gründer in lautem Chor, und voll stürmischer Hast gingen sie an’s Werk.

Einige von ihnen – und zwar gleich die bedeutendsten – traten schon vor dem deutsch-französischen Kriege auf die Bühne. Sie warteten nicht einmal das neue Actiengesetz ab, aber sie wußten von ihren Freunden, den Manchesterleuten, daß es unterwegs war, und sie schnitten im Voraus ihre Gründungen darnach zu. Am 8. März 1870 erhob sich im Norddeutschen Reichstage der edle Graf Renard und fragte die Regierung: Wie steht’s? (nämlich mit dem Freigeben der Actiengesellschaften.) Ihm antwortete Herr Delbrück: Wir sind schon dabei. – Die Gründer wurden mit dem Actiengesetz überrascht, wie bei der Weihnachtsbescheerung die Kinder, welche ihren Eltern einen Wunschzettel eingereicht haben.

Zu den Geistern, welche die Zeit sofort begriffen und sie gründlich, oder eigentlich „gründerlich“ auszubeuten verstanden, gehört in erster Reihe – Hermann Geber. Er steht ebenbürtig neben Heinrich Quistorp und J. A. W. Carstenn, und etwas hinter ihm steht – Herr Paul Munk.

Hermann Geber, ursprünglich ein grauer unscheinbarer Versicherungsmensch, verwandelte sich kurz vor der Wiedergeburt des deutschen Reiches in den farbenschillernden Falter eines Groß-Industriellen und General-Speculanten. Er ist ebenso reich an „Ideen“ wie Quistorp, nur ist er darin weit glücklicher. Während Quistorp heute, gezwungener Maßen, auf seinen Lorbeeren ruht, beglückt Geber noch immer das dankbare Berlin mit seinen Schöpfungen.

Hermann Geber begann damit, daß er die verlassene Caserne des Kaiser-Franz-Regiments in der Commandantenstraße ankaufte, von einem gewissen – Fiscus. Fiscus ist ein alter wunderlicher Herr, der es z. B. liebt, möglichst billig zu verkaufen und möglichst theuer einzukaufen. Er verkauft oft, was er selber höchst nöthig braucht, und was er dann hinterher zehnmal theurer wieder anschaffen muß. Er hat verschiedene kostbare Grundstücke in Berlin den Gründern überlassen, wofür er sich heute in großer Verlegenheit befindet. So findet er in der Stadt selber keinen Platz mehr für das neue Criminal-Gerichtsgebäude und muß es – sehr bequem für das Publicum – draußen nach Moabit verlegen.

Also Geber kaufte von Fiscus, mit dem er öfter Geschäfte macht, die alte Franz-Caserne, die inzwischen das Ansehen einer Räuberhöhle angenommen hatte, und schuf daraus das sogenannte Industriegebäude, welches an dreißig Läden und zahlreiche Comptoirs und andere Geschäftslocalitäten enthält. Dazu erstand er noch, zum Theil in Verbindung mit Herrn Eduard Stahlschmidt, eine Anzahl benachbarter Grundstücke, legte sie nieder und erbaute die heutige Beuth-Straße, die in der Hauptsache gleichfalls aus lauter Läden und allerhand Geschäftsräumen besteht.

Im Februar 1870 schloß Hermann Geber mit Banquier Ferdinand Jaques, Commerzienrath Hermann Egells, Geh. Commerzienrath Moritz Plaut, Banquier Hermann Rauff und Justizrath Dr. Franz Hinschius – später sämmtlich hervorragende Gründer – eine „Societät“, die „sobald als möglich in eine Actiengesellschaft umgewandelt“ werden sollte. Nachdem das Actiengesetz Hals über Kopf fabricirt war, entstand noch während des Krieges, im September 1870, die „Berliner Central-Straßen-Actien-Gesellschaft“, welche jene Grundstücke erworben hatte. Herr Geber profitirte als Verkäufer eine Summe, die er in übergroßer Bescheidenheit gelegentlich mit circa 250,000 Thalern bezeichnen ließ, und ward selbstverständlich „Director“ der Gesellschaft, ließ sich auch noch zwei „Special-Directoren“ unterstellen.

Das Actiencapital, ursprünglich 1,200,000 Thaler, ward fortwährend erhöht und schließlich auf vier Millionen (!) gebracht. 1872, am 30. April, bekanntlich dem Narrentage, „creirte“ man gleichzeitig ½ Million „junger“ Actien („erste Emission“) und 1½ Million „neuer“ Actien („zweite Emission“). Zwischen der Dorotheen-, Friedrichs-, und Georgenstraße ward ein „zweites Industriegebäude“ in Aussicht genommen, und zu diesem Zwecke eine Reihe von Grundstücken, darunter wieder fünf vom Director Geber(!), zu mehr als hohen Preisen angekauft. Ohne diese Nachgründung hätten die Actionäre vielleicht nur die Hälfte verloren, während sie jetzt etwa zwei Drittel eingebüßt haben. Die Actien, im April 1872 etwa 125, stehen heute circa 35, wiewohl die der „zweiten Emission“ noch bis zum 1. Juli 1876 fünf Procent „Bauzinsen“, also aus dem eigenen Säckel, erhalten. Der Häusercomplex II. blieb bestehen wie er war, denn inzwischen ging der Gründungsschwindel zu Ende, und damit ging auch die Baulust aus. Die Grundstücke sind „bestens“ vermiethet, rentiren sich indeß selbstverständlich nicht. Ganz kürzlich aber hatte Herr Geber eine neue geniale Idee. Er etablirte zwischen diesen Häusern den – Stadtpark, und pflanzte, statt der Bäume und Sträucher, hier 72,000 (!!) Gasflammen an. Wir kommen auf dieses Meerwunder, das die Presse mit einstimmigem Hosianna! begrüßte, noch zurück. Wir verlassen einstweilen Herrn Geber und wenden uns zu Herrn Munk.

Herr Paul Munk stammt, wie so viele seiner Glaubensgenossen, die hier ihr Glück machten, aus dem Posenschen. Seit 1866 ist fast das halbe Großherzogthum Posen nach Berlin eingewandert, ist die Zahl der hiesigen Juden von 20,000 bis nahezu 50,000 gestiegen. Die Kinder Israel vermehren sich in Berlin ebenso heftig wie einst in Aegypten, und es sind durchgehends wohlhabende und reiche Leute; wirklich arme Juden kommen hier nicht vor. Das Klima von Berlin, wiewohl es ihm sehr an Ozon mangelt, bekommt den Nachkommen Abraham’s außerordentlich, und wenn man ihren 1800jährigen Schmerz stillen und sie heute in das Land zurückführen wollte, darinnen Milch und Honig fließt – sie würden sich schönstens bedanken.

Als Herr Paul Munk vor etwa acht Jahren in Berlin einzog, sollen, wie die Fama behauptet, fünf Thaler für ihn eine unerschwingliche Summe gewesen sein: – heute bewohnt er die Beletage des Eckhauses am Pariser Platze. Er wohnt hier zusammen mit zwei Herzogen; der Herzog von Sagan wohnt neben ihm, und der Herzog von Ujest über ihm. Er wohnt bei seinem Freunde Pincuß zur Miethe, besitzt aber selber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_525.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)