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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Ein Vorkämpfer der humanen Rechtswissenschaft.


Das Volk soll bei Zeiten Diejenigen kennen lernen, welche vorzugsweise für sein Wohl und Wehe bestrebt sind. Unter die nicht gar zu große Zahl solcher Männer gehört Franz von Holtzendorff, und deshalb wollen wir versuchen, hier, in dem Blatte, dessen Mitarbeiter er ist, eine Skizze seiner Thätigkeit zu entwerfen.

In Deutschland vorzugsweise hat man die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß nur Diejenigen sowohl von den gelehrten Genossenschaften wie von den maßgebenden Regierungsbehörden als „wahre“ Gelehrte erachtet worden sind, welche aus der Stille der isolirten Studirstube heraus nur auf das Katheder der Hochschulen und von diesem alsbald wieder zurück in die

Franz von Holtzendorff.

Studirstube getreten sind und nur den einen Zweck im Auge hatten, die „Wissenschaft“ für den Kreis ihrer Jünger und für die wissenschaftlichen Mitarbeiter zu entwickeln und zu fördern. Endlich – und wir sagen wohlerwogen: gottlob! – ist denn doch auch in Deutschland eine andere Zeit angebrochen. Endlich haben auch unsere Gelehrten sich herausgearbeitet aus der engen und engherzigen Beschränkung und damit der Entfremdung der Wissenschaft vom öffentlichen Leben und Verkehre ein Ende bereitet.

Am längsten hat die Zurückhaltung der „Männer vom Fache“ vorgehalten bei der Rechtswissenschaft. Es hatte dies freilich einen tief in der historischen Entwickelungsgeschichte unserer deutschen Rechtszustände liegenden Grund. Ist es doch eine zwar unbestrittene, aber im Einzelnen noch keineswegs klar gelegte historische Thatsache, daß Deutschland das Geschick hatte, daß das gelehrte römische Recht nicht nur auf dem Gebiete des Privatrechts, nein, mehr oder weniger auf allen Rechtsgebieten, dem Staatsrechte wie dem Strafrechte, dem materiellen Rechte wie dem Proceßrechte, eindrang in die Gerichtshöfe, eindrang in die Gesetzgebung, ja in die ganze maßgebende Anschauung, von dem Kaiser und den Landesherren bis herab in die Ausläufe des Beamtenthums. Es erwies sich dies besonders für die staatsrechtliche Weiterentwickelung des deutschen Staatswesens seit dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderte als ein nationales Unglück, ein Unglück, von welchem sich England so gut wie vollständig, Frankreich wenigstens zum großen Theile frei zu halten wußte.

Auf anderen Gebieten war das Eis längst mit staunenswerthem Glücke gebrochen worden. Ein Liebig steht dort im Vordergrunde. Er zeigte sofort in mustergültiger Form und mit dem bestmöglichen Gehalte seiner Schriften, daß echte Wissenschaftlichkeit in der Forschung sehr wohl vereinbar ist mit gemeinverständlicher Mittheilung der Forschungsresultate. Ein Virchow ist dem glänzenden Beispiele glänzend nachgefolgt. Vor Allem aber wäre es an sich und besonders hier undankbar, nicht unseres trefflichen Bock zu gedenken. Ihnen schloß sich eine täglich wachsende Reihe von Nacheiferern würdig an. Gerade die höchsten Fragen der Menschheit, die Entstehungsgeschichte des Weltalls, die Abstammung und Entwickelung des Menschengeschlechts wurden in trefflichen Volksschriften verarbeitet und Bescheidenheit und Humanität indirect in hohem Maße gefördert.

Unbegreiflich wäre es gewesen, wenn die Rechtswissenschaft auch jetzt noch sich der gleichen Aufgabe entzogen hätte. Und wenn auch auf diesem zuletzt übriggebliebenen Gebiete Diejenigen noch immer das große Wort führten, welche das Leben als Gegensatz von „akademisch“ auffassen, – auch das Recht weist in der That heutzutage schon eine stattliche Reihe von Vorkämpfern für die freie Forschung und Lehre auf. Ein Häusser hat den Reigen eröffnet; ein Sybel ist ihm gefolgt, und direct „vom Fache“ sind in die gleiche Bahn eingetreten Gneist, Bluntschli und – unser Holtzendorff, Alle unbekümmert um das Achselzucken der noch heute die Mehrzahl bildenden Vertreter der vornehmen Gelehrsamkeit, welche noch in der neuesten Periode Deutschlands ihre Wissenschaft von jeder Berührung mit dem Volksleben ängstlich fern zu halten nach wie vor bestrebt sind.

Unbekümmert um diese vornehmen Herren, giebt von Holtzendorff seit langen Jahren im Vereine mit jenem Virchow die „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“, mit dem gesinnungsverwandten Oncken die „Deutschen Zeit- und Streitfragen“ heraus. Gemeinsam ist beiden Unternehmungen das Streben der Volkserziehung und gewissermaßen auch der Versöhnung des Volks in seinen einzelnen Schichten unter einander, besonders der Arbeiter. Auch durch Anregung des Juristenvereins, gegründet 1860, und selbst durch seine Thätigkeit an der Universität gab Holtzendorff gewissermaßen unter den gleichen Widerwärtigkeiten demselben Zuge unerschrockenen und consequenten Ausdruck, indem er sogenannte „Publica“, das heißt Vorlesungen hielt, zu welchen nicht blos jeder akademische Bürger, sondern auch mit Erlaubniß des Rectors jeder Bürger überhaupt Zutritt hat, und er erlebte die Freude, daß sich zeitweise allabendlich ein großer Kreis bildungsbestrebter Männer in einem großen Hörsale der Berliner Universität einfand, um dem Gedankengange des Lehrers gespannt zu folgen und wenigstens fruchtverheißende Anregungen mit nach Hause zu nehmen. Holtzendorff setzte das Gleiche auch in München fort.

In diesen öffentlichen Vorlesungen war das eine Thema die Todesstrafe. Wie überhaupt die Humanität und ihre Förderung, besonders auf dem ganzen Gebiete des Rechts, des Staatsrechts, des Völkerrechts, vorzugsweise des Kriegs- und Friedensrechts, die eine Grundrichtung des Geistesstrebens Holtzendorff’s ist, so gehört er vor Allen zu denjenigen Vorkämpfern der Gegenwart, welche bei dem großen Gewichte der Gegenansicht beinahe ihr persönliches Renommée in die Schanze schlagen, um der Humanität besonders in dem hundertjährigen Streitpunkte der Todesstrafe endlich Bahn zu brechen.

Was ein Beccaria begonnen, ein Mittermaier in seiner reiferen Lebenshälfte mit Freimuth und Wärme vertreten, das nahm Holtzendorff auf. Er war es, welcher nicht etwa nur in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_537.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)