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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


unter Berufung auf diese kriegerische Vergangenheit durch dortigen Einfluß wieder zu einer ärztlichen Stellung in seiner Heimath zu gelangen. Da ihm aber in seinem Heimathsorte die Praxis entzogen sei, so müsse er das große Staatsexamen nochmals machen, was er durch Empfehlung aus Berlin zu erlangen hoffe. Ich muß gestehen, ich habe keine Spur von Irrsinn an dem Unglücklichen bemerkt. Mit dem Nachtzuge reiste er nach Berlin weiter. Ich hielt es für meine Pflicht, an den Director jener Irrenanstalt um bezügliche Aufklärung zu schreiben, und erhielt alsbald die Antwort, daß K… in Folge seines früheren übermäßigen Chloroformgenusses, der seine Gehirnnerven tief afficirt habe, allerdings an einer unheilbaren Geisteszerrüttung leide, derart jedoch, daß oft Wochen, ja Monate lang die Störung verborgen bliebe, dann aber wieder in unbändiger Tollwuth erschreckend genug hervortrete. Später nun brachte ich in Erfahrung, daß K… sein Vorhaben durchgesetzt, das große Staatsexamen nach halbjähriger Prüfung zum zweiten Male mit glänzendem Erfolge bestanden und in einem kleinen Orte ein sehr gesuchter und beliebter Arzt geworden sei.

Heute, ein Jahr nach dem oben geschilderten Besuche, sitzt der Unglückliche wieder fest in einem Irrenhause seines Heimathlandes. Einige Monate, nachdem er sowohl durch das abgelegte Examen, wie durch seine ärztlichen Leistungen, sich in seiner Stellung gesichert fühlte, schrieb er an den Director des Irrenhauses, er würde die nächste Gelegenheit benutzen, die ihm eine Reise nach dort böte, um ihn zum Lohn für die damalige Gefangenhaltung durch einen Revolverschuß aus der Welt zu schaffen. Uebergabe des Briefes an die Behörde, Verhaftung des Armen und Zurückwanderung desselben in sein unerbetenes Asyl waren die Folgen jener wiederholten Geistesverirrung. –

Aus diesem gegebenen Beispiele geht hervor, daß, ebenso wie bei übertriebenem Wein- und Spirituosengenuß, ein an und für sich segenbringendes Mittel zum Unheile werden kann. Uebrigens dürfen wir der Wissenschaft unseren Dank nicht versagen, daß sie uns mit dem Chloroform eine so herrliche Gelegenheit zur Erleichterung menschlicher Leiden gegeben hat. Es ist die Anwendung dieses Medicaments als eine der bedeutendsten Errungenschaften der neueren Medicin zu betrachten und wird der Menschheit, trotz kleiner Schattenseiten, immer mehr zum Heile gereichen.

     Frankfurt am Main.

Dr. med. S. Th. Stein.




Das Geständniß einer Frau.


Es ist am 6. August 1871, dem ersten Jahrestage der Schlacht bei Spichern. Schon seit Sonnenaufgang sind Hunderte aus St. Johann und Saarbrücken dem Mockerthale zugewandert, welches der Volksmund längst zum „Ehrenthale“ umgetauft hat. Niemand weiß, wann und wie der schöne Name entstand, wer ihn zuerst gefunden, wiederholt und weiter getragen hat. Auf einmal war er da, von Tausenden zugleich genannt, anerkannt für alle Zeiten.

Seit dem gestrigen Abende sind liebende und ehrende Hände nicht müde geworden, die Grabstätten der gefallenen Helden mit frischem Blumenschmucke zu zieren. Die Mutter, Wittwe oder Waise, welche dem Orte, wo ihr ein geliebtes Herz verstaubt, auch noch so ferne lebt, darf sicher sein, daß der Hügel, nach dem sie sich heute doppelt schmerzlich sehnt, wenigstens nicht ungeschmückt bleiben wird. Dieselben Samariterinnen, welche in jener unvergeßlichen Zeit der einzigen auf deutscher Feldmark ausgefochtenen Schlacht des glorreichen Krieges Tag und Nacht die Verwundeten beherbergt und gepflegt haben, bringen sowohl Denen, die sie nicht genesen sehen durften, wie Jenen, deren Blut sofort den Boden gedüngt hatte, welchen sie vertheidigten, unermüdlich den freundlichen Zoll der Liebe. Die langen Reihen der Grabhügel, die noch vereinzelten Kreuze sind verschwenderisch mit Blumen und Laubwerk bedeckt.

Jetzt ist es später Abend. Die bis nach Sonnenuntergang mit immer neuen Menschengruppen angefüllte Gräberstätte ruht schweigend und einsam unter dem sommerlichen Nachthimmel, aus dem bereits einzelne Sterne steigen. Die Schritte der Traurigen wie der Müßigen sind verhallt; kein Laut ist mehr zu vernehmen, als das leise Rauschen, womit der Abendwind hin und wieder durch die Laubgänge streift – es klingt fast wie ein schwaches Echo des Chorals, welchen heute die Bergknappen hier angestimmt hatten: „Wie sie so sanft ruhn“ – Alles ringsum ist in das weiche Grau des Spätabends gehüllt, aus dem nur hin und wieder die goldene Inschrift eines der Kreuze, oder eine weiße Atlasschleife hervorblickt, die sich schwach am dunkeln Lorbeerkranze bewegt.

So lautlos die Landschaft, ist sie doch nicht völlig menschenverlassen. Auf der angrenzenden, nach Forbach führenden Fahrstraße hält ein Wagen, und zwischen den Gräbern des weiten Friedhofes weilen zwei vereinzelte Frauen. Die eine derselben sitzt mit ineinander gefalteten Händen ganz still auf einer rohgezimmerten Bank, welche das Bedürfniß längeren Verweilens hier hatte entstehen lassen; ihre Augen haften auf der zweiten, jugendlichen Gestalt, die in geringer Entfernung über die Böschung eines gleich einem grünen Acker lang hingestreckten, berasten Hügels niedergeworfen liegt, beide Arme um den Fuß eines einfachen Marmorkreuzes geschlungen, das aus einem Meere von Blüthen aufragt.

Minute auf Minute verrinnt. Der Himmel bedeckt sich weithin mit Sternen; die Luft wird kühler. Nun erhebt sich die Sitzende und nähert sich mit leisem, raschem Tritte der Knieenden, welche ihren gegen den Schaft des Kreuzes gestützten Kopf nicht wendet, als die Andere bereits dicht neben ihr steht. Als sie ihre Schulter berührt fühlt, zuckt sie heftig zusammen.

„Linda!“

Die Arme des jungen Mädchens lassen vom Kreuze ab; im nächsten Augenblicke steht sie, gleichsam mechanisch aufgerichtet, auf ihren Füßen und wendet ihrer Gefährtin ein Gesicht zu, das kalt, weiß und schimmernd ist, wie eine Schneeflocke.

„Du willst gehen?“ sagt sie ausdruckslos.

„Es ist spät; es wird kalt.“

Das scheint auch Linda momentan zu empfinden. Sie schauert, hüllt sich fest in ihr Mäntelchen und thut einige Schritte vorwärts. Vielleicht ist es der leise, kaum hörbare Seufzer der Erleichterung, welcher der Anderen entschlüpft, der sie aus ihrer Starrheit zur Besinnung weckt; sie macht sich plötzlich von dem Arme los, den Jene in den ihrigen geschoben, ist mit zwei Schritten zurück an der eben verlassenen Stätte, und beugt sich, eine Ranke Immergrün zu pflücken. Ihre kalten Lippen pressen sich fest, minutenlang auf die Initialen, welche dem Marmor eingegraben sind, ein kurzes, abgebrochenes Stöhnen durchschneidet einen Augenblick die Todtenstille, dann folgt sie der Vorausgeschrittenen zum Wagen. In der nächsten Minute rollen dessen Räder der Hügelkette entlang, deren Umrisse sich kaum gegen den Horizont abheben, über den Exercirplatz, durch die ruhige Stadt, über die neue Brücke hinweg nach der Vorstadt Sanct Johann. Dort hält der Wagen vor einem ansehnlichen Hôtel in der Nähe des Bahnhofes.

Es ist eine Stunde später. Mutter und Tochter haben sich mit Thee erwärmt, der keinen Schimmer von Farbe auf die Wangen des jungen Mädchens gebracht hat; selbst ihre Lippen sind blaß, und sie ruht schlaff und ohne jede Elasticität der Bewegung auf dem Sopha. So man aber auch die ganze Erscheinung, würde sie doch Niemand als welk bezeichnen. Der warme, unbesiegbare Hauch der Jugend liegt auf ihr und verleiht ihrer Blässe zarten Schmelz, gleich dem einer weißen Camellie.

Zart und noch jugendlich ist auch die Erscheinung der Mutter; wie aber die Züge Beider im Schnitte nicht die geringste Aehnlichkeit verrathen, so gilt dies noch weit mehr für die Seele, welche sich in diesen Zügen ausdrückt.

Frau Delbring blickt zuweilen in ein Buch, das aufgeschlagen vor ihr liegt, öfter über den Tisch hinweg auf Linda. Endlich bricht sie das Schweigen: „Willst Du nicht zur Ruhe gehen, liebes Kind?“

Das junge Mädchen fährt mit plötzlicher, unvermittelter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_562.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)