Seite:Die Gartenlaube (1875) 595.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Engagement. Wir reisen von Tirschtiegel nach Wüstegiersdorf. Es war im Winter und bitter kalt. Unterwegs brechen wir die Achse und müssen in einem Dorfe übernachten. Der Wirth kann uns nur ein heizbares Zimmer geben. Dieses eine heizbare Zimmer nimmt dieser Mensch, dieser Director mit seiner Frau in Beschlag. Ich sage zu ihm: ‚Director, seien Sie human! Sehen Sie, wie mein braves Weib mit den Zähnen klappert und meine Tochter vor Frost zittert – geben Sie uns, Ihren besten Mitgliedern, das heizbare Zimmer!‘ – ‚Nein,‘ antwortet der Schinderhannes. Wir übernachten also in sibirischer Kälte. Am andern Tage bekommt mein armes Kind die Masern.“

„Und stirbt?“

„Nein – Gott sei Dank! – aber sie hätte sterben können, und dann wäre dieser Bandenchef ihr Mörder gewesen. Lieber auf der Landstraße, als in’s Engagement zu solch einem Menschen!“ –

Die Collectenbrüder werden immer seltener. Wenn der Realismus und die auf das Materielle gerichtete Zeitströmung ein Gutes gewirkt haben, so ist es namentlich ein energisches Zusammenfassen der Kräfte, auch des Einzelnen, innerhalb des Standes der Bühnenkünstler. Diese Errungenschaft wird auch die Collectenbrüder wegfegen. Für das unverschuldete Unglück sind ja die „Einigkeit“ und die „Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger“ helfend einspringende Institutionen.

Schließlich noch einen heitern Beweis, daß auch die Collectenbrüder mit der Zeit fortschreiten. Ein herumreisender Collectant hat sich die nachfolgende Epistel fein säuberlich in eleganter Ausstattung auf einen Bogen Velinpapier drucken lassen. Hat er sich eine Bühne zum Opfer erkoren, so sendet er aus einem nahegelegenen Orte die Epistel portofrei unter Kreuzband an die betreffende Direction. Am folgenden Tage oder Abende erscheint er höchst persönlich, um die Moneten in Empfang zu nehmen. Die traurige Historie – denn eine solche ist es – lautet wörtlich und buchstäblich:

     „Hochgeehrter Herr!

Ein fünfundachtzigjähriger Bühnenveteran wagt es, Derenselben dieses Gesuch gedruckt zu übergeben, da eine Verwundung der Hand ein solches Zittern zurückgelassen, daß mir das Schreiben fast beinahe unmöglich wird.

Durch den Krieg 1866 bin ich in einen so hülflosen Zustand gekommen, daß ich mich oft selbst frage, warum ich ein so trauriges Leben noch trage. Ich wollte damals von Coburg nach Dresden, wo ich früher engagirt war, konnte aber nicht mehr des ausgebrochenen Krieges wegen durch. Nun reiste ich über Elster-Eger und kam nach Waldsassen in Baiern. Mein langjähriges Ersparniß war durch eine fünf Monate lange Cur der Hand und auf der Reise d’raufgegangen, und ich mußte meine beste Garderobe veräußern, um mich gegen den nachschleichenden Hunger zu schützen, denn Herrmann mein Rabe kam nicht. Dafür kamen in der Nacht drei Gensdarmen, nahmen meine Sachen in Beschlag und brachten mich in ein Gefängniß. Den Tag darauf vor den Landrichter geführt, sagte dieser: ‚Sie sind der Spionage verdächtig und bleiben hier in Haft, bis von der betreffenden Behörde, an welche Ihre Papiere abgesendet worden, ein Bescheid ankommt!‘ Da half kein Protestiren; ich dachte, wie Talbot in der ‚Jungfrau von Orleans‘ sagt: ‚Unsinn, Du siegst, und ich muß untergehen.‘ – Also zurück in den Thurm, alter Moor! Die Sache hatte aber auch ihre ernste Seite – ich kenne das; mußte ich doch in dem spanischen Kriege 1809 selbst die tödtliche Kugel auf einen vermeintlichen Spion absenden, der nicht überwiesen war. Im Kriege macht man mit einem Menschenleben nicht viel Umstände.

Mein Gefängniß war ein kleines, feuchtes Gewölbe – ein Fensterchen hoch oben, etwas Stroh, keine warme Nahrung etc. Wie nun aber in unseren Operetten und Lustspielen ein Gefängnißwärter gewöhnlich eine hübsche Tochter hat, so auch hier. Die etwa Sechszehnjährige kam immer mit, wenn mir der schweigsame Vater Brod und Wasser brachte. Einmal trat sie eine Minute vor ihm in meine Zelle. Das schien mir ein günstiger Augenblick, mich mit ihr zu verständigen wegen einer Tasse Kaffee, nach der sich mein mißhandelter Magen sehr sehnte. Ich sprach zu ihr; keine Antwort – ich wiederholte – sie sah mich groß an – auch diese Hoffnung war umsonst – das arme Kind war taub – der Alte kam.

Die Folgen dieser Kerkerhaft waren für mich schrecklich. Ich hatte mich erkältet, das fiel auf mein Gehör. Ich blieb drei Jahre ganz taub und höre jetzt nur wieder gedämpft auf dem linken Ohre. – Elendes Künstlerleben! Ueber fünfzig Jahre an der Bühne; immer, sowohl in der Oper wie im Schauspiel, auch auf größeren Bühnen stets in ersten Fächern beschäftigt, muß ich jetzt darben, oft hungern. – Viele leidende Collegen habe ich gern unterstützt, und nun bin ich selbst ein Bittender. Ich wage nun den schweren, demüthigenden Schritt, dieselben ergebenst zu bitten, mein Gesuch um Unterstützung mittelst Collecte den geehrten Herren und Damen mit einigen wohlwollenden Worten an ihr theilnehmend Herz zu legen. Es wird Ihnen Segen bringen. Ich will ja gern den Diener, welchen Sie etwa damit beauftragen, entschädigen. Mit dero Genehmigung werde ich die Ehre haben, mich morgen bei Ihnen anzumelden und mich mit Paß etc. legitimiren. Hochachtungsvoll Dero gehorsamer Diener

Z. Z.
Sänger und Schauspieler.“

Was sagt der geneigte Leser hierzu? Der Mann annectirt ja den ganzen Pomp eines Colportageromans, um zum Ziele zu kommen. Und portofreie Zusendung! Elegante Ausstattung in Papier und Buchstaben! Wenn die Collectenbrüder sich so veredeln, darf man da nicht hoffen, daß sie mit der Zeit ganz verschwinden werden? –

Arno Hempel.




Blätter und Blüthen.

Eine Geschichte der letzten österreichisch-ungarischen Nordpol-Expedition in Bildern. (Mit Abbildungen S. 592 und 593.) Hinter der großartigen Wasser- und Felsenscenerie des Nordens liegt eine Welt voll geheimnißvoller Reize verborgen, gleich wichtig für den wissenschaftlichen Forscher wie für den denkenden Menschen überhaupt. Seit Jahrhunderten ist der Nordpol das Ziel kühner und in ihren Erfolgen oft bedeutungsvoller Unternehmungen gewesen, aber noch immer sind die höchsten arktischen Regionen uns geblieben, was sie schon den alten Deutschen waren, der unentweihte Sitz der Götter, irdischem Trachten unerreichbar; denn noch keine unter den Forschungsexpeditionen hat ihre Aufgabe völlig gelöst; noch keine hat jenen äußersten und letzten Erdpunkt gefunden, der, den Berechnungen der Geographen zufolge, die höchste nördliche Breite, aber gar keine Länge repräsentirt.

Einen Schritt weiter in die nordische Eiswüste als die früheren Unternehmungen hat indessen die letzte österreichisch-ungarische Expedition gethan. Sie hat an mehr als einer Stelle den Schleier gelüftet, der uns die Wunder jener geheimnißvollen Erdregionen verhüllte; sie hat diese Erfolge errungen durch eine Reihe der schwersten Gefahren und Drangsale, welche in ihrer fast übermenschlichen Größe und Furchtbarkeit den Hörer beinahe wie ein Märchen gemahnen.

Der Gang dieser Nordpolfahrt und die Schicksale ihrer Mitglieder sind allbekannt. Für fast drei Jahre ausgerüstet, ging die Expedition am 13. Juni 1872 mit dem Schraubendampfer „Tegetthoff“ von Bremerhafen in See, erreichte Mitte August die Barents-Inseln und gerieth schon am 21. desselben Monats auf eine riesige, zuerst nach Nordosten, dann nach Nordwesten treibende Scholle, auf welche sie, von Eis ringsum eingeschlossen, für die Dauer von zwei Jahren festgebannt war. Am 28. Oktober brach die arktische Nacht über die willenlos dahin Treibenden herein. Der blaßgrünen Dämmerung folgte die lange schwarze Polarnacht von hundertneun Tagen. Wehmüthig blickten die hülfelosen Schiffer den gen Süden ziehenden Vögeln nach – dann schien jede Spur des Lebens vertilgt, und über dem stillen Reiche lagerte undurchdringliche Finsterniß. Fünf bange Monate waren die Lampen in der Kajüte des „Tegetthoff“ die einzigen Lichtspender in dieser Wüste der Nacht; nur wenn der Mond schien, schimmerten die Taue gleich silbernen Strahlen über das Schiff hin.

Am 16. Februar 1873 endlich ging die Sonne wieder auf, und am 31. August sahen die verwegenen Segler etwa vierzehn Meilen vor sich im Norden – Land. Ein erhabener Augenblick! Es waren die nachher als Kaiser-Franz-Joseph-Land bekannt gewordenen Eisregionen. Aber erst Ende Oktober betraten die Entdecker, über geborstenes und hoch gethürmtes Eis drei Meilen hinwegschreitend, eine öde, traurige Insel, die Wilczek-Insel. Dann wieder, vom 22. Oktober an, tiefe Polarnacht, diesmal hundertfünfundzwanzig Tage dauernd. Der 24. Februar brachte das lang ersehnte Sonnenlicht zurück, und nun begann mit den Schlittenreisen zur Erforschung des Kaiser-Franz-Joseph-Landes eine für die Resultate der Expedition überaus wichtige Zeit. Auf diesen höchst gefahrvollen Schlittenexcursionen traten alle Schrecken des Landes den unverzagten Forschern in der drohendsten Gestalt entgegen: Kälte, Hunger und Nässe mußten ertragen, gefährliche Eisspalten und von Meereswasser überfluthete Landesstrecken überschritten, Schneestürme und alle Unbilden des Wetters erduldet werden. „Allen Lebens bar lag das Land vor uns,“ heißt es in Julius Payer’s Mittheilungen, „überall starrten ungeheure Gletscher von den hohen Einöden des Gebirges herab, dessen Massen sich in schroffen Kegelbergen kühn erhoben. Alles war in blendendes Weiß gehüllt, und wie

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_595.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)