Seite:Die Gartenlaube (1875) 622.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

gegenüber, das, von der edelsten Bildung der Zeit verurtheilt, im Besitze der Katheder, der Kanzeln, der Regierungssessel war; das erzeugte einen brütenden Haß, eine lodernde Leidenschaft, die sich zur Zeit oder zur Unzeit Luft schaffen mußte, bald in giftigem Spotte, der, wie es eben geht, auch das Heilige nicht verschonte, bald in furchtbar ernstem Ausfalle. In einer andern Zeit wäre man über einen solchen Angriff auf die Kirche von Seiten eines Aesthetikers und Poeten ohne Weiteres weggegangen, aber wie die Dinge standen, mußte die Reaction ihr Opfer haben; alle Sympathien, welche die studirende Jugend dem geistvollen Lehrer entgegenbrachte, nützten nichts. Vischer wurde auf zwei Jahre seiner Lehrtätigkeit enthoben.

Mir war dieser Schlag doppelt empfindlich, weil meine Neigungen mich im ersten Jahre fast ausschließlich auf die Rosenpfade der schönen Literatur führten. Ich versäumte zwar die vorgeschriebenen Studien nicht, welche sich auf Philologie, Geschichte und die Anfänge der Philosophie bezogen, aber mein Lieblingsstudium war Poesie und Kunst. Ich nahm Winckelmann’s Geschichte der alten Kunst zur Hand; ich studirte Hotho’s, des geistvollen Hegelianer’s, „Geschichte der Malerei“, Lessing’s „Laokoon“, Schiller’s ästhetische Abhandlungen, Wilhelm von Humboldt’s reizende Schrift über das Wesen der Epopöe, deren Gesetze er durch eine meisterhafte Zergliederung von Goethe’s „Hermann und Dorothea“ zur Anschauung brachte etc. Das reich ausgestattete Museum bot mir die moderne Literatur in ihrer Vollständigkeit. Besonders Goethe’s Lieder trug ich auf Weg und Steg bei mir; hier hatte ich ein- für allemal gelernt, was lyrische Poesie sei; nach diesem Maßstabe beurtheilte ich hinfort Anderer lyrische Versuche; was von eigenen vorhanden war, zerriß ich und machte keine weiteren mehr. Dagegen vergeudete ich eine schöne Zeit mit dramatischen Aufgaben und verdarb mir zwei volle Ferien durch die Thorheit, mich in ein Zimmer einzuschließen und Dramen zu schreiben.

Unter diesen fast ausschließlichen Beschäftigungen mit Kunst und Poesie arbeitete ich mich in eine einseitig phantastische Lebensanschauung hinein. Mein Ideal war: die poetische Stimmung in mir dauernd zu machen; ich schob daher Alles mit Verachtung oder Gleichgültigkeit an die Seite, was dieselbe stören konnte. Ja, ganze Gebiete des realen Lebens blieben mir fremd; Politik, was die Völker und Länder im Verhältniß zu einander bewegt, Handel, Erwerb, Industrie war mir alles gleichgültig. Ich las absichtlich keine Zeitung – was kümmerte mich auf den Höhen des Ideals der Trotz der Könige, der Zorn der Völker und das verwirrende Geschrei der Parteien? Diese Stimmung war es auch, die mich fast ein Jahr lang zum Vegetarianer machte. Ich hatte in einer der Dichtungen von Percy Shelley die begeisterte Schilderung einer Familie gelesen, deren Glieder grundsätzlich sich des Fleischgenusses enthielten und dadurch nicht blos körperlich blühend, gesund und elastisch, sondern auch frei von Leidenschaften und voll inneren Friedens geworden waren. So wollt’ ich werden: frei von jeder aufregenden Leidenschaft, ein Feind alles Rohen, immer in einer Atmosphäre des inneren Glückes und Friedens, eine Pflanze, die stille wächst und Alles, was an sie herankommt, verarbeitet zur Förderung ihres Lebensprocesses. Darum entschloß ich mich trotz der sonst schon schlechten Stiftskost zum Vegetarianismus. Ich hatte auch, wie alle Schwärmer, die Bestätigung meiner Theorie auf allen Seiten bei der Hand. Ich sprang eine Zeitlang täglich nach Tisch die paar hundert Stufen auf den Schloßberg hinauf und fand zu meiner freudigen Ueberraschung, daß bei dieser Turnübung das Gehen mit jedem Tage leichter und das Athmen unbeschwerlicher vor sich gehe, was ich natürlich nicht der Uebung, sondern der Fleischenthaltung zu gute schrieb. Später führten mich die Belehrungen eines Arztes zur gewohnten Lebensweise zurück.

Auch für den anderen Wahn, für das romantische Schwelgen und Schwärmen, gab es zum Glücke eine Cur, welche sich die Gesundheit der Natur selber vorschrieb und auswählte; es war eine Reise. Der Rhein mit seinen Burgen und Sagen, die Loreley und der Kölner Dom – das waren Zauberklänge für das Ohr des Romantikers. Der Vater erhob Einsprache und fand eine Reise erst als Belohnung für die wohlvollendete Studienzeit berechtigt, aber dem Zureden wohlmeinender Freunde und den dringenden Bitten des Sohnes verwilligte er endlich zwanzig Gulden, denen mein mitleidiges liebenswürdiges Bäschen in Tübingen aus ihrer Casse noch acht Gulden hinzufügte. Mit achtundzwanzig Gulden in der Tasche reiste ich vierzehn Tage lang im Herbste 1845 von Tübingen über Stuttgart, Heilbronn, Heidelberg nach Köln, wo ich drei Tage weilte, vor dem Dome träumte und alle Kirchen nach Gemälden durchstürmte, dann zurück über Mannheim mit der ersten Eisenbahn, die ich sah, nach Straßburg, von da über den Kniebis nach Hause.

O goldene Zeit, da man mit achtundzwanzig Gulden eine vierzehntägige Bildungsreise machen konnte, da die Welt und die eigene Genügsamkeit noch gestattete, mit den Alten zu fühlen: „Der ist den Göttern am nächsten, der die wenigsten Bedürfnisse hat!“

Arm am Beutel war ich heimgekommen, aber um so reicher am Geiste. Von keiner spätern Reise habe ich so reichen Gewinn heimgetragen. Mit der frischen Empfindung einer Jugend, die das Bewundern und Staunen noch nicht verlernt hat, hatte ich mich den Dingen hingegeben, und diese hatten gewirkt. Ich fand mich wie neugeboren. Der romantische Traum war ausgeschlafen, das „Aechzen und Krächzen“ war abgethan. Ich hatte die Städte, die Schiffe, den Verkehr, den Handel, die Beschäftigungen der Menschen, mit Einem Worte: die Welt mit ihren praktischen Interessen und realen Aufgaben gesehen. Ich wandte mich von der Mondscheinseligkeit ab und kehrte mich der Helle des Tages zu. Es war Zeit; denn mit dem zweiten Studienjahre kamen die Fragen, die an den Mann gingen, die ernsten Probleme der Philosophie und Theologie.




Hund und Katz’.
Eine Geschichte aus den bairischen Oberlande.
Von Hermann Schmid.
(Schluß.)

Bei den übrigen Anwesenden – mit Ausnahme weniger aus der nähern Verwandtschaft, denen das Aufsehen und die Schande näher ging und die sich daher theils entrüstet, theils betrübt entfernt hatten – gewann indeß bald eine heitere Anschauung des Vorfalls die Oberhand. So etwas war, so weit man zurückdenken konnte, noch nirgends vorgekommen, und wenn man auch überzeugt war, daß zwischen Zachariesel und Julei schon lange ein geheimes Einverständniß bestanden haben müsse, und ihm dies in hohem Grade verübelte, so lobte man ihn doch darum, daß er sich wenigstens im entscheidenden Augenblicke zusammengenommen hatte und mit der Sprache offen herausgegangen war, wie es sich für einen Mann schickte. Voll Erwartung der hochzeitlichen Freuden bei Mahl und Tanz war man herangekommen: man konnte nun doch unmöglich so unverrichteter Dinge und mit leerem Magen wieder heimkehren, hungrig, durstig und in allen Erwartungen getäuscht. Was war natürlicher, als daß die Gäste in allen Räumen sich zusammendrängten, um den Wirth nach Kräften von seinen Vorräthen zu befreien und sich durch Gespräche und Gelächter über die unterbrochene Hochzeit wenigstens für einen Theil der entgangenen Unterhaltung zu entschädigen.

Auch der Schlösselbauer mit Kuni war unter denen, welche diesen Ausweg erwählt hatten, und war in seiner besten Laune – was dem Grubenmüller mit seiner Tochter widerfahren war, überstieg doch weit die Vorfälle von Diessen und Erling; es gab also doch noch einen Vater, der mit seiner Tochter mehr auszustehen hatte, als er selbst, und wenn dieselbe bisher ein Gegenstand des Geredes gewesen, so war nun ein anderer Stoff gegeben, gegen den alles Frühere wie „kühler Thau“ erschien. Er war um so vergnügter, als auch bei Kuni die fröhliche Gesangsstimmung des Morgens andauerte, wenn sie auch etwas nachdenklicher geworden war. Es konnte nicht fehlen, daß die

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1875, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_622.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2019)