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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

wanken beginnt und die Explosion über kurz oder lang unvermeidlich erfolgen muß.

Wir waren während unserer Unterredung in der Galerie auf- und abgewandert, und als wir uns allgemach wieder der Seite näherten, von welcher wir ausgegangen waren, sahen wir in der geöffneten Thür des Musiksaales einen hohen Schatten auftauchen, bei dessen Anblick wir Beide zusammenzuckten. Fräulein Adrianoff preßte meinen Arm mit Ungestüm an sich und zog mich näher zu der bewußten Thür.

Der Capellmeister kam uns bereits entgegen. Mit der Sicherheit, die ihn nie zu verlassen scheint, verfügte er auch jetzt wieder über einige Salonphrasen und begann sogleich bei der nächsten Blumengruppe eine so eifrige Unterhaltung über diesen Gegenstand, als hätten wir Alle an dem Abende für nichts Sinn als für botanische Studien. Ein einziger seiner adlerartigen Blicke mochte ihn übrigens belehrt haben, daß Wéra und ich uns verständigt hatten, denn alsbald begann er, nur dem Eingeweihten verständliche Bemerkungen einzuflechten, die sie schnell genug begriff und in ähnlicher Weise zurück gab. Jetzt strahlte ihr Antlitz vor innerer Glückseligkeit. Bald französisch, bald deutsch, rasch wie Blitzfunken flogen die Worte, die bald einen Doppelsinn, bald verdeckte zärtliche Betheuerungen enthielten, hin und wieder, und ich Unglückliche stand dabei mit äußerlich lächelnden, gleichgültigen Mienen, innerlich zerschmettert von dem deutlichen Bewußtsein, daß meine Gegenwart als diejenige einer unverdächtigen Dritten nur dazu diente, das verliebte Paar zu decken, indem es sich verbotene Liebeserklärungen machte. Und – o, er hatte Alles so fein eingefädelt, daß ich nichts daran ändern konnte, ohne mir eine Blöße zu geben. Es war um den Verstand zu verlieren, und wäre in diesem Augenblicke die Decke des Saales über uns herabgebrochen, uns Alle in einem Sturze begrabend – ich würde nicht einmal Schreck empfunden haben. Endlich kommt indessen der Mensch doch an die Grenze dessen, was ihm zu ertragen möglich ist. Als ich auch Constantin Feodorowitsch, der bis dahin, von unserem Gebieter in lebhafter Unterhaltung festgehalten, mit diesem im Saale auf- und abgewandert war, scharfe Blicke zu uns herüberwerfen sah, richtete ich an Hirschfeldt die dringende Aufforderung, noch einige Musikstücke vorzutragen.

„Für Sie thue ich Alles,“ antwortete er, „was Sie nur wollen. O Fräulein Helene, wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin!“

Ich hielt seinen leuchtenden Blick aus, ohne zu zucken oder die Farbe zu wechseln, das fühlte ich, und fragte ziemlich kühl: „Wie wissen Sie denn eigentlich, daß Sie sich auf mich verlassen können?“

Ueber seine Züge glitt ein unnachahmliches Lächeln. „Ich weiß es aus Ihrem Spiel,“ erwiderte er. „Sie haben mit Gefühl gespielt, also wußte ich, daß Sie ein Herz haben, und wenn ich sage, Sie sind Künstlerin, so wende ich es nicht auf das Spiel an, sondern auf das Herz. Sie haben ein warmes, fühlendes Künstlerherz, Sie verstehen also, daß der Geist und die Kunst den Menschen adelt und nicht die Geburt, was die Menschen nicht begreifen wollen in diesem Lande der Vorurtheile.“

Er ging an den Flügel und spielte hinreißend. Ich konnte ihm nicht zürnen, obwohl ich begriff, daß dieser Hymnus des Glückes nicht an mich gerichtet war, obwohl ich nur zu gut verstand, wie Alles, was an diesem Abende mächtig wogend durch sein Herz fluthete, was er mit Worten nicht aussprechen durfte, jetzt in brausenden Jubeltönen hervorbrach, bald durch rauschende Accorde sich verkündend, bald im sanften Adagio mit süßen Schmeicheltönen die Seele bestrickend.

Ich verstand, was diese Sprache sagen wollte, und dabei ließ Wéra für den Rest des Abends meine Hand beinahe nicht mehr aus der ihrigen und sah mich mit seligen, dankbaren Blicken an. Es war wie ein Rausch, wie ein Fieber, in dem ich mich befand, und dann, als sie Abschied genommen hatten, als ich endlich auf meinem Zimmer allein war, brach ich fast zusammen. Ich schlief in dieser langen, ruhelosen Nacht keinen Augenblick. Und am folgenden Morgen, da ich mich wieder von meinem Lager erhob, war ich gerade so wach, wie ich mich niedergelegt hatte. Ich fühlte mich matt zum Sterben und an allen Gliedern wie zerschlagen, aber ein Entschluß hatte sich doch in mir durchgerungen durch alle Verwirrung meines Geistes und Gemüthes in den Kämpfen dieser Nacht. Die schwache Menschennatur in mir möchte sich empören, Wéra zu hassen als meine Nebenbuhlerin, und dennoch kann ich es nicht, denn sie hat meine Seele eingenommen durch ihren Liebreiz, ihre hingebende Offenheit. Diese beiden Menschen, deren Vertraute ich so wider Willen geworden bin, sollen sich ungeachtet dessen nicht in mir getäuscht haben. Ich will thun, was in meinen Kräften steht, Wéra vor böser Nachrede zu bewahren, denn das ist mir bereits klar geworden, daß von allen Seiten Blicke voll Neugierde und Böswilligkeit spähend auf sie, die Vielbeneidete, gerichtet sind. Ich werde immer suchen, im geeigneten Augenblick an ihrer Seite zu sein, um hier bei uns wenigstens Unvorsichtigkeit ihrerseits zu verhüten, sie zu warnen. Was weiter werden soll? Gott helfe mir – ich habe keine Ahnung davon.

Als ich das Frühstückszimmer betrat, fand ich Olga in lebhafter Unterhaltung mit unserm Gebieter, und diesen allem Anscheine nach in der behaglichsten Stimmung. Sobald die Gouvernante mich erblickte, wechselte sie indessen, wie mir nicht entgehen konnte, das Gesprächsthema. Sie wendete sich an mich und sagte in einem Tone, dessen bedauernder Ausdruck unwillkürlich mein Mißtrauen weckte:

„Aber wie angegriffen Sie aussehen, Helene! Sollten das die Folgen der gestrigen Anstrengung sein?“

Ich gab mir Mühe, so gleichgültig wie möglich zu erscheinen, indem ich ihr erwiderte, daß sie sich wohl täuschen müsse, da ich mich vollkommen wohl fühle.

„Wer Ihnen das glauben wollte!“ sagte Olga Nikolajewna, und aus ihren glänzenden, blauen Augen flimmerte es mir wie versteckte Bosheit entgegen. „Sollten nicht am Ende gar die musikalischen Studien an der Blässe Ihrer Wangen schuld sein?“

„Es ist möglich,“ antwortete ich kühl und nahm dem Diener die Tasse ab, die er mir eben präsentirte. „Ich habe in den vorhergehenden Tagen recht viel geübt, und das greift stets ein wenig die Nerven an. Wie ich Ihnen aber schon bemerkte, ich spüre nichts davon.“

Olga versicherte mir, daß sie darüber entzückt sei, weil im ersten Augenblick mein Aussehen sie wirklich erschreckt habe, und dann erging sie sich in einem wahren Schwall von Lobeserhebungen über unsere gestrigen Musikaufführungen. Ich mußte ihr darauf antworten mit dem deutlichen Bewußtsein, daß von einigen Menschen ein zuvorkommendes Wesen unangenehmer berührt als ein gleichgültiges oder gar rücksichtsloses. Iwan Alexandrowitsch schien jedoch in dem Punkte anderer Meinung als ich.

Er ließ sich wenigstens die Aufmerksamkeiten, mit denen ihn Olga während des Frühstücks überschüttete, äußerst gnädig gefallen und richtete mehrmals in Anerkennung derselben Schmeicheleien an sie, deren vertraulicher Ton mich in Verwunderung setzte.

Ich kenne Iwan Alexandrowitsch weit länger als sie, und doch hat er in solcher Weise noch nie mit mir gesprochen, was ich freilich in keiner Weise bedaure. Diese kleine Gouvernante versteht die Männer entschieden an sich heran zu ziehen. Ich denke, es kommt daher, daß sie versteht, dieselben immer zu amüsiren, wenn sie auch in den Mitteln zur Erreichung dieses Zweckes nicht eben wählerisch ist.


(Fortsetzung folgt.)


Die Kehlkopfkrankheiten und der Kehlkopfspiegel.

So lange die Kehlkopfhöhle für das Auge des Arztes unzugänglich war, blieb auch die Kenntniß der Krankheiten dieses Organs, die zu den häufigsten Feinden der Gesundheit gehören und nicht selten lebensgefährlich werden, eine unvollkommene, weil die Diagnose derselben nicht auf direkter Anschauung beruhte.

Erst mit Erfindung und Anwendung des Kehlkopfspiegels fiel auch diese Schranke für die ärztliche Kunst, und das Auge ist seitdem im Stande, unbehindert in die Tiefe dieses wunderbaren Organs der Tonbildung und Sprache einzudringen, ja selbst noch weiter hinab bis in die große Luftröhre, die wie der Kehlkopf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_632.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)