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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

ausfahren sollte. Als ich ankam, waren in Folge dessen die Damen noch bei der Toilette, und der Capellmeister empfing mich mit der Bitte, mich nur kurze Zeit zu gedulden. Wir blieben also für einen Moment allein, und er benutzte ihn sofort, um aus seiner Brieftasche ein zierliches Billet herauszunehmen und es mir zu reichen.

„Lesen Sie, ich bitte,“ rief er beinahe ungeduldig, als ich zögerte, den duftigen Liebesboten zu berühren, denn ich hatte in der Adresse Fräulein Adrianoff’s Handschrift erkannt, von der ich oftmals kleine Briefe empfange. Ich that, wie er geboten, und zwang meine Hand, nicht zu zittern, indem sie das feine Blättchen auseinanderschlug, welches den rückhaltlosesten Erguß schwärmerischer Leidenschaft enthielt und zugleich die Nachricht, daß die Ankunft ihres „Zukünftigen“ sich glücklicher Weise noch um ein Weniges verzögern werde, so daß sie für den Augenblick wieder aufzuathmen wage.

„Freuen Sie sich!“ sagte ich und gab den Brief zurück.

Er zuckte die Achseln. „Es ist eine Henkersfrist,“ erwiderte er finster. „Aber noch Eins, Fräulein Helene,“ – er war plötzlich nahe zu mir herangetreten – „in einer Minute wird meine Schwester hier sein. Sprechen Sie in ihrer Gegenwart nicht von diesen Dingen!“

Ich sah ihn voll Erstaunen an. „Nicht in Gegenwart Ihrer Schwester? Und warum nicht?“

Er zögerte. „Nun, wissen Sie, es ist des Geheimnisses wegen, das bewahrt werden muß, und meine Schwester ist – ist ein Frauenzimmer.“

„Und ich?!“

„Sie! Nun, ich sagte Ihnen schon, – Sie sind eine Künstlerin.“

Er durchmaß mehrmals das Zimmer mit hastigen Schritten, und dann plötzlich trat er wieder dicht vor mich hin und ließ seine Blicke auf mir ruhen, als wolle er im Grunde meiner Seele lesen. „Wunderbar,“ begann er von Neuem, „unfaßlich bleibt es trotz Allem. Erklären Sie mir nur das Eine: wie es doch kommt, daß ich zu Ihnen, ohne Sie weiter gekannt zu haben, so unbedingtes Vertrauen fassen mußte. Ich glaube, es rührt von der sicheren, harmonischen Ruhe in Ihrem Wesen her. Man sieht Sie an und fühlt sich überzeugt, daß alles Unedle, Unüberlegte oder auch Unpassende Ihnen gänzlich fern liegt, Sie –“

Zum Glück machte die Ankunft der Damen in eben dem Augenblicke allen Erörterungen ein Ende, denn – läßt er sie gleich nicht gelten, so war ich mir doch meiner Frauennatur klar genug bewußt, um nicht zu fürchten, daß sie sich nächstens in mir empören werde, wenn der Mann, dem sich nun einmal mein Herz zugewendet hat, noch länger fortführe, mein Ich gleich einer Sache zu zergliedern, die ihm einigermaßen nützlich und darum interessant erschien.

Ich verabschiedete mich nach kurzem Beisammensein mit Freundlichkeit von den Damen und legte während des Nachhausegehens still im Innern das Gelübde ab, mich von dem Herrn Sohn und Bruder in Zukunft auch möglichst fernzuhalten.


Den 25. November.

Es ist wohl recht nachlässig, aber es ist nun einmal so – volle drei Wochen sind vergangen, seitdem ich zuletzt an diesen Blättern schrieb, und so schnell sind sie dahin, daß ich nicht begreife, wo die Zeit geblieben ist. Volle drei Wochen! Und wenn ich an Alles denke, was in der Zeit sich begeben hat, so fühle ich die Unmöglichkeit, ausführlich das Versäumte nachzuholen, und nur um nicht den Faden zu verlieren, will ich das Wichtigste anführen.

Alle zehn Fingerspitzen thun mir weh, so daß ich kaum die Feder halten kann, und zwar von nichts als vom Fortepianospielen. Selbst nicht in den Zeiten meiner anstrengendsten Studien habe ich so mit Eifer gespielt; aber dafür ist uns auch der Triumph geworden, daß unsere musikalischen Abendunterhaltungen glänzenden Aufschwung genommen haben. Man spricht überall in der Stadt davon; es sind förmliche Concerte daraus geworden, und die ganze Gesellschaft plätschert in Musik. Während der vorigen Woche war Hirschfeldt fünf Tage nacheinander hier, immer um zu üben, und am Mittwoch halten wir ordentliche kleine Proben. Madame Branikow, deren Launen weit erträglicher geworden sind, seit sie sich nicht mehr wie im Sommer langweilt „zum Sterben“, hat ein zweites Instrument angeschafft, damit wir zu acht Händen spielen können. Am letzten Donnerstag haben der Capellmeister und ich den Alexander-Marsch auf beiden Instrumenten vorgetragen und, wie ich der Wahrheit gemäß wohl eingestehen darf, Furore damit gemacht.

Wenn ich nur diese thörichte Angst und das Herzklopfen überwinden könnte, mit dem ich immer zu kämpfen habe, wenn der Musikabend herankommt! Sowie ich im Augenblicke des Beginnens vor dem Instrumente sitze, geht Alles gut, zuvor aber quält mich das Mißtrauen in mich selbst, und eine unüberwindliche Unruhe beherrscht mich. Dazu ist schon von verschiedenen Seiten eine Andeutung gefallen, daß durch unsere kleinen Concerte allmählich ein großes für die Armen sich vorbereiten könne, und wenn ich daran denke, wird mir ganz bange um’s Herz.

Fräulein Adrianoff kommt wieder zu unseren Soiréen. Sie hielt sich einige Male zurück, aber Madame vermißte sie beim Spiele und fast mehr noch, weil sie den Verkehr mit der Familie, einer der vornehmsten in Woronesch nach derjenigen des Gouverneurs, nicht wieder entbehren möchte. Sie fuhr also eines Tags zu den Adrianoff’s, wobei ich sie begleiten mußte, lud Wéra auf’s Neue zu den Musikaufführungen ein und sagte den Eltern so viele schöne Dinge mit all’ der Liebenswürdigkeit, die ihr nach Gefallen zu Gebote steht, daß sie alsbald ihren Zweck erreichte.

(Fortsetzung folgt.)


Auf lichter Höhe.
Von Jean Nötzli.

Denn wie drunten in rosiger Ferne
Sonne den Abendhimmel bestrahlt.
Also auch schau’ ich dich
In deiner Zukunft Rosenschein.

Der Dichter dieser Verse, Gottfried Kinkel, wohnt gerade an dem Orte, auf den wir sie am liebsten anwendeten, nachdem Deutschland, auf welches er sie bezog, längst diesen Rosenschein mit dem Tage der Macht und der achtunggebietenden Größe in allen Gebieten vertauscht hat. „Wie herrlich!“ rief der berühmte Mann, als er aus seinem Zimmer hinaustrat auf den Balcon und mit einem Schlage das wundervolle Panorama im lichten Abendglanze vor ihm lag. Ein solches Bild bezaubernder Lieblichkeit und Schönheit, eines weihevollen Friedens, bietet nur eine Stadt, und die ist – Zürich. Wohl hat das „Land der Sehnsucht“, wie Herwegh die Schweiz nennt, überwältigendere, großartigere Naturschönheiten aufzuweisen, aber keine mehr von jenem poetischen Glanze, wie dieses.

Und wenn man da mitten drinn steht, und der trunkene Blick über all die Anmuth der Landschaft streift, da tritt der Wunsch von der „Zukunft Rosenschein“ unwillkürlich vor die Seele. Wohl ist Zürich eine glückliche Stadt. Gebettet in einen göttlichen Fleck Erde, schafft der rührige, ameisenartige Fleiß seiner Bürger in Handel und Gewerbe beneidenswerthen Wohlstand, und den Namen von „Limmatathen“ hat es sich auch mit großen Opfern erkämpft. Wie in wenigen Städten des In- und Auslandes, legt ein Kranz von Schulen und hohen Lehranstalten Zeugniß ab von regem, selbstbewußtem Geiste, und eine ganze Reihe trefflich ausgerüsteter wissenschaftlicher Anstalten sammelt einen Kreis von Gelehrten, unter denen manch stolzer Name glänzte und glänzt und den Namen Zürich mit dem seinen berühmt und geachtet macht. Universität und Polytechnikum geben jedes Jahr Schaaren tüchtig gebildeter junger Männer an die Gelehrtenwelt oder den Beruf in’s praktische Leben ab, und die Volks- und Fortbildungsschulen thun das Ihre, die Bildung in alle Schichten der Bevölkerung zu tragen.

Alle diese Verhältnisse nun bringen Zürich eine große Zahl

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_648.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)