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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Ueberraschung geben, welche das Kinderherz der Weihnachtspracht gegenüber erfaßt, und die so mächtig wirkt, daß das poesiereiche, durch die Liebe geweihte Andenken daran einen unvertilgbaren Schimmer über das ganze Leben wirft, ja, so unvertilgbar, daß selten nach öde oder wild verlebten Jahren eine Seele so verdüstert, ein Herz so verknöchert sein kann, daß die Erinnerung an das schönste, selbsterlebte Zaubermärchen der Kindheit es nicht erquickt, wie ein Tropfen himmlischen Thaues die versengte Flur.

Hirschfeldt’s Blicke richteten sich dabei auf mich weit mehr als auf die Arbeit in seiner Hand. Er sah mich verwundert an, ich glaube meiner ungewohnten Beredsamkeit wegen, und doch dabei theilnahmvoll lächelnd.

Ich stieg auf ein Tabouret, ließ mir von ihm die Sachen reichen und befestigte sie an dem harzig duftenden Geäste. Er gehorchte schweigend jeder Anordnung, und dann, als er eine geraume Weile meinen Bewegungen mit den Blicken gefolgt war, sagte er: „Wissen Sie, wie Sie aussehen, Fräulein Helene, dort inmitten der grünen Zweige, die sich wie Kronen um Ihre Stirn neigen, bestrahlt vom Lichtglanz, mit Ihrem wundervollen blonden Haar und blauen Augen?“

„Grau, mein Freund,“ rief ich lachend, „wenn Sie sie genau betrachten, werden Sie finden, daß meine Augen durchaus grau sind.“

„Grau oder blau, die Farbe ist einerlei,“ antwortete er; „ihr klarer, gütiger Ausdruck macht sie eben schön, und Sie gleichen, so wie Sie dastehen, einer jener hülfreichen Feen, von denen stets Ihre vaterländischen Märchen zu erzählen wissen. Wie lauten doch noch diese sagenhaften Ueberlieferungen? Bringt es nicht Glück, wenn eine derselben sich herabläßt, einem armen Menschenkinde zu erscheinen?“

„Mitunter wohl, mitunter auch Unglück,“ erwiderte ich, einigermaßen in Verwirrung gebracht durch die Wendung des Gespräches und darum bestrebt, einen scherzhaften Ton in die Unterhaltung zu bringen. „Ich fühle mich aber gerade in diesem Augenblick weit mehr als hülfsbedürftige Sterbliche, denn als allmächtige Fee; wäre ich eine solche, so würde ich z. B. auf der Stelle meinen Zauberstab schwingen und dieses Blumenkörbchen an jene Zweigspitze zaubern, so aber muß ich Sie bitten, meine Stelle einzunehmen, da Sie, mit längeren Armen begabt, hoffentlich hinaufreichen können.“

Ich sprang von meinem erhabenen Standpunkte herunter, und mit einer Hand noch bemüht, mich von einem sich an mein Haar anklammernden Zweiglein zu befreien, streckte ich die andere mit dem Korbe Hirschfeldt entgegen. Er nahm ihn mir ab, aber in demselben Augenblicke auch fühlte ich seine warmen Lippen auf meiner Hand. Ich erschrak bis in’s innerste Herz hinein und riß mich los.

Ein Handkuß ist hier eben nichts Seltenes für mich, aber dieser – dieser war entschieden nicht am Platze. Ich vermochte kein Wort zu sagen, sondern suchte mit schlecht motivirter Hast zwischen den Sachen umher, und ziemlich schweigend setzten wir von nun an unsere Arbeit fort bis zu ihrer Vollendung. Nur nicht denken! Es lag wie eine stille Traumseligkeit über mir, die durch den ersten ernsten Gedanken zu verscheuchen ich mich instinktiv hütete. Als mein Gefährte, der so schweigsam war, wie ich ihn noch nie gesehen, mir dann zum Abschied die Hand reichte, traf mich sein Blick mit seltsam bittendem Ausdruck. Vielleicht wollte er dadurch seiner Ueberschreitung wegen um Verzeihung bitten. Ich zürne ihm nicht und werde an diese Stunde wie an einen schönen Traum denken, aber wiederkehren darf sie nicht.


(Fortsetzung folgt.)


Liebeswunder.

O kommt mit ernstem Schweigen,
Die Ihr von Gott entfernt!
Ich will Euch Wunder zeigen,
Auf daß Ihr glauben lernt.

5
Laßt Thränen, Schmerz und Trauer

Und hofft auf Sonnenschein:
Mir zog der Liebe Schauer
Mit tausend Wundern ein.

Eh’ mir auf dunklen Bahnen

10
Ihr Lächeln noch getagt,

Ward nur durch frommes Ahnen
Mein Glück vorausgesagt.
Im Herzen fühlt’ ich’s glimmen.
Die Seele wuchs zur That.

15
Es rief mit Engelstimmen:

Wach auf, Dein Heiland naht!

Da kam sie, hold und wonnig,
Und Alles ward erhellt;
Wie Christus, zog sie sonnig

20
In meines Herzens Welt.

Sie rief die todte Leyer
Zu neuem Lebensglück
Und nahm der Blindheit Schleier
Und gab das Licht zurück.

25
An ihren Blicken hangend

In trunkner Himmelslust,
Begrub ich liebebangend
Ihr Bild in meiner Brust.
Da klang es auf und nieder.

30
Wie fernes Frühlingsweh’n:

Im Sturme meiner Lieder
Kam sie zum Aufersteh’n.

Nun fühl’ ich, was so mächtig
Das Herz zum Himmel weist:

35
Sie gab mir flammenprächtig

Des Friedens heil’gen Geist.
Sein Licht geht niemals unter;
Er bändigt alle Qual:
Er ist das höchste Wunder

40
In diesem Thränenthal.


Drum kommt mit ernstem Schweigen,
Die Ihr von Gott entfernt!
Ich will Euch Wunder zeigen,
Auf daß Ihr glauben lernt.

45
Schmückt mit der Himmelsrose

In Demuth Euch das Haupt!
Ihr glaubt das Namenlose,
Wenn Ihr die Liebe glaubt.

Ernst Eckstein.



Ein dunkler Punkt.

Ein ängstliches Mutterherz erbat sich kürzlich von uns darüber Beruhigung, ob es wirklich durch die Entwickelung bedingt sei, daß die weiche Stelle auf dem Kopfe ihres zweimonatlichen Erstgeborenen noch nicht die Härte der übrigen Nachbartheile erlangt habe. Am Schlusse waren die Worte hinzugefügt: „Ist es der Wissenschaft überhaupt möglich, den Grund des Vorhandenseins dieser Stelle zu erklären?“

Diese Anfrage über das Schreckgespenst jeder jungen Mutter kann an und für sich kaum als wunderbar bezeichnet werden, aber interessant und zugleich bedauernswerth für den Fachmann ist sie deshalb, weil man deutlich erkennt, wie wenig der Laie an den großartigen Fortschritten der medicinischen Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten theilgenommen hat. Alle Specialfächer haben sich fast gleichmäßig an diesem glänzenden Aufschwunge betheiligt, nur Eines wird von Tag zu Tag mehr in den Schatten gestellt – die populäre Medicin.

Ein populär-medicinischer Artikel der Jetztzeit muß, wenn er nur irgendwie Befriedigung und Nutzen hervorrufen soll, eine höhere Anforderung an die Geistesthätigkeit der Leser stellen, als dies früher geschah; diese Anstrengung wird ihm aber meistens nicht zu Theil; er wird überschlagen, und Verleger und Autor verlieren die Lust zu weiteren Versuchen. Der Verfall dieses Zweiges der Wissenschaft bietet aber zugleich den Hauptgrund für die Erklärung, wie es möglich sein kann, daß bei der zunehmenden Allgemeinbildung des deutschen Volkes der Einzelne noch nicht in den Stand gesetzt ist, selbstständig die Spreu vom Weizen zu sondern, denn Aberglaube, Naturpfuscherei und Spiritismus wuchern relativ stärker als je zuvor.

Bei der Beantwortung der obigen Frage ist es daher auch unbedingt nothwendig, in aller Kürze auf anatomische Gewebsverhältnisse einzugehen, ohne welche ein Verständniß nicht herbeizuführen ist.

Der kleinste organisirte Bestandtheil unseres Körpers ist die Zelle. Die unendliche Mannigfaltigkeit, welche diese Gebilde in Bezug auf Größe, Gestalt und technischen Inhalt in dem vollendeten Organismus erlangt, ist vorzüglich bedingt durch die Stätte seiner Entwickelung. Schon von der ersten Bildungsstufe an lassen sich zwei gesonderte Zellenarten unterscheiden,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_686.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)