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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


und die Erde wohnlich macht, Dämonen des nächtlichen Winters, der empörten Meereswogen, der unwirthbaren Felsengebirge mit ihren Wildwassern und Bergstürzen. Unablässig rütteln sie an ihren Schranken und Fesseln, und einst wird es ihnen gelingen, alle Bande zu zerreißen.

Unter einem heiligen Baume befand sich nach altgermanischer Sitte, die Gerichtsstätte. Auch der Amtsort der Götter, wo sie den täglichen Erhaltungskampf berathen, liegt unter einem gewaltigen Baume, der mit seinem Wipfel hinausragt über Walhall und mit seinen Wurzeln hinabreicht in die tiefsten Tiefen der Unterwelt. Ueber die Brücke des Regenbogens reiten sie nach diesem Thingbaume, der rauschenden Esche Yggdrasil.[1] Sie ist ein Symbol des gesammten Naturlebens, ein zweites geistiges Bild der geordneten Schöpfung, der allernährende Lebensbaum, den wir schon in der persischen Sage kennen gelernt, an dem aber auch von allen Seiten das Verderben frißt. Fast könnte man glauben, er habe unserem Schiller vorgeschwebt als

Der Baum, auf dem die Kinder
Der Sterblichen verblüh’n,
Steinalt, nichts desto minder
Stets wieder jung und grün.

Die zu den Menschen hin reichende Wurzel des Lebensbaumes wird begossen aus dem neben ihr sprudelnden Brunnen der Urd, in dem diese selbst und ihre beiden jüngern Schwestern wohnen, die drei Nornen, den griechischen Moiren, römischen Parzen durchaus entsprechend. Urd ist das Gewordene, die Vergangenheit, Werdandi das Werdende, die Gegenwart; Skuld das Sollende, Kommenmüssende, die Zukunft, dann auch die Ursache der kommenden Strafe, die Schuld.

Bei der zweiten Wurzel des Weltbaums, die zu den Riesen hinreicht, befindet sich die Quelle Mimir’s, der selbst ein Riese ist und ihre Urzeitkunde besetzt, aber keine ihrer zerstörenden Eigenschaften. Er ist ein germanischer Prometheus, und wie sein Name, verwandt mit momoria, Gedächtniß, ausdrückt, die personificirte Erinnerung an die uranfänglichen Dinge vor der Erschaffung des Menschen. Nicht ganz unzugänglich ist dies in seinem Gedächtnisse lebenden Wissen der Forschung; denn der Gott des Geistes, der grübelnde Odin, erwirbt es, muß aber eines seiner Augen verpfänden, um es zu erlangen durch einen Trunk aus Mimir’s Lauterborn. Es ist das eines jener Räthsel der Edda, und eines der allerschwierigsten. Ich will Ihnen diese „Rune“ noch aufgeben und zugleich lösen, kann es Ihnen aber kaum verdenken, wenn Sie dabei etwas wie Schwindel verspüren sollten.

Allein, heißt es, saß die Norne Urd an ihrem Brunnen, als Odin, der grübelnde Ase, kam. Da schaute sie ihm in’s einzige Auge und sagte:

„Alles, Odin, auch wo Du dein Auge
Verborgen, ist mir offenbar geworden.
Im lauteren Borne Mimir’s verbargst Du’s
Und Meth trinkt Mimir an jedem Morgen
Aus Walvater’s Pfand. – Wißt ihr’s zu deuten?
Heimdal’s Horn auch weiß ich verheimlicht
Unter der heiligen, hoch in des Himmels
Reinheit ragenden rauschenden Esche.
Schäumende Ströme seh’ ich sprudeln
Aus Walvater’s Pfand. – Wißt ihr’s zu deuten?“

Heimdal hat das Amt eines Himmelswächters der Nacht. Sein Horn ist die Mondsichel. Auf diesem Horne wird er gellend blasen, wann am jüngsten Tage die Mächte der Vernichtung ihre Fesseln brechen. Aber dieses Horn ist, als Mond, zugleich etwas anderes. Odin, als Himmelsgott, hat zwei Augen, die Sonne und den Mond; weil aber in der Regel nur eins derselben deutlich wahrnehmbar ist, heißt er auch der Einäugige. Die Verpfändung des einen dieser Augen, des Mondes, an Mimir hat zum Naturanlaß das Untertauchen und verschwinden des Mondes im Meere. Mimir nun mit seinem Brunnen ist ein Wassergeist. Das Wasser, aus dem alles Leben hervorgegangen, gilt auch in der germanischen Mythologie als Urquell der Weisheit und besonders Brunnennymphen, Schwanenjungfrauen und Meerweiber, vor allen Mimir selbst, besitzen die Gabe der Weissagung. Indem nun der Verpfändung des Auges der Grund angedichtet wird, daß Odin dafür der Weisheit Mimir’s theilhaftig werden wolle, geht der Mythus von der Natur auf das geistige Gebiet über. Die Kunde nämlich, die der grübelnde Gott durch den Trunk aus Mimir’s Brunnen erlangt, ist die vom einstigen Untergange der Welt. Den Eintritt desselben wird einst Heimdal’s Horn verkündigen, das als Mondsichel zugleich Odin’s Auge und sein dem Mimir gegebenes Pfand ist. Da der langgezogene Ton dieses Horns das Hervorstürzen der Wasser- und Feuerstrudel des jüngsten Tages meldet, so ist dieser Ton für die Seherin dieser stürzende Strom selbst, und so kann sie sagen, sie sehe ihn fluthen aus Walvaters Pfande. Endlich aber bedeutet Horn auch Trinkgeschirr; mithin kann Mimir aus Odin’s Pfand auch Meth trinken.

Das Räthsel beruht also auf der kühnen Vertauschung einer dreifachen Wortbedeutung in Verbindung mit einer symbolisirten Naturanschauung und der Lehre von der Götterdämmerung. Es ist für den germanischen Geist besonders dadurch charakteristisch, daß dieser übermüthige Witz sein verwegenes Spiel treibt mit der furchtbarsten aller Tragödien, der des Weltunterganges.

Aus dem Brunnen der Urd, das heißt aus der Quelle der Vergangenheit, das lehrt die Sage vom Weltbaum, soll das Leben seine Verjüngung schöpfen. Darin liegt zugleich die Mahnung, daß ein Volk nicht in gesunder Kraft bestehen könne, ohne beständig zu trinken aus dem Born der Ueberlieferung von seiner Vorzeit. Beherzigen wir dieselbe! Es ist eine Schande, wenn immer noch viele von uns zwar die Mythologie der Griechen und Römer an den Fingern herzuzählen wissen, in unserer eigenen aber sich fremd fühlen wie in böhmischen Wäldern. Denn wer sich mit ihr vertraut macht, der wird bald erkennen, daß wir alle Ursache haben, stolz zu sein auf unsere Vorväter, deren Göttersage an Tiefsinn der Naturbetrachtung hinter keiner anderen zurücksteht, alle aber weit übertrifft in jener stolzen, bei gewaltigstem Ernste doch zugleich bis zum Uebermuth heiteren Ergebung in das tragische Menschenloos, also in unbeugsamer Tapferkeit der Gesinnung, vermöge deren der germanische Stamm sich schon im Jugendalter berufen erwies zur Herrschaft über die Erde, die er nun mit Riesenschritten nicht erobernd, sondern erwerbend antritt.




Aus dem Leben eines deutschen Vorkämpfers.


Als im Februar 1874 alle dem Gedankenkampfe der Zeit nicht abgewendeten Kreise von der Kunde erschüttert wurden, daß David Friedrich Strauß nicht mehr unter den Lebenden sei, hatte die „Gartenlaube“ sofort ihren Lesern die Hauptthat des verewigten Zeitgenossen zu charakterisiren gesucht und Weiteres über sein Leben und Wirken für fernere Darlegungen sich vorbehalten. Seitdem ist die Redaction vielfach durch Zuschriften aus dem Publicum an dieses Versprechen erinnert worden, es geschah aber nicht ohne Absicht, wenn der Verfasser des hier folgenden Charakterbildes, zwischen dem Vorsatze und seiner Ausführung eine längere Frist verstreichen ließ, da er von kundigen Freunden des Verstorbenen noch manche genauere Aufschlüsse über denselben erwartete, die inzwischen denn auch zur Genüge dargeboten wurden.

Um Strauß und die geschichtliche Bedeutung seiner ersten Wirkungen zu verstehen, muß man vor Allem scharf den Charakter der Zeit in’s Auge fassen, aus der er hervorgewachsen ist. Es war dies jene Zeit, wo der sogenannte patriarchalische Absolutismus, dieser metternichisch-bundestägliche Fürsten-, Adels- und Kastenstaat, mit eiserner Gewalt auf Deutschland lag, wo er soeben wieder einmal neu aufflammende Regungen des erwachenden Volkszornes, sowie einer freier aufstrebenden Literatur niedergeworfen hatte und nun von Neuem alle seine Kraft zusammenballte zur Einschüchterung, Entnervung und Herabdrückung des gefürchteten Volksgeistes.

Die Absicht wurde erreicht, ein Grabesschweigen herrschte auf deutschem Boden, aber nur Eines konnte von den selbstsüchtigen Gewalthabern nicht ausgelöscht und todtgeschlagen

  1. Bedeutet: Das Roß des Furchtbaren, das ist Odins. Die Erklärung, wie diese Benennung auf den Weltbaum übertragen werden konnte, würde für diese Blätter zu lang und gelehrt ausfallen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_736.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)