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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Schluß.)


Ein Ausruf, halb Schreck, halb Schmerz verrathend, entfuhr den Lippen meines Gastes; mehr einem Marmorbilde ähnlich als einem lebenden Menschen, stand er vor mir, einem Marmorbilde, aus dem nur die Augen sprühend, anklagend, finster zu mir herüberblickten.

„Hören Sie mich an!“ sprach er gepreßt in einem Tone unterdrückter Heftigkeit, der ihm, wie ich wußte, so gar nicht eigenthümlich war. „Sie müssen mich anhören, Helene. Und erst nachdem Sie Alles wissen, fahren Sie fort in diesem Tone vernichtenden Spottes – wenn Sie dazu im Stande sind!“

Hätte er mich nur nicht so gar anklagend und traurig angesehen jetzt! Ich fühlte, daß meine Kraft mich zu verlassen drohte. Setzen wir uns vor allen Dingen!“ sagte ich und ließ mich in den nächsten Sessel gleiten, da meine zitternden Füße mir entschieden den Dienst versagten.

Hirschfeldt hatte sich abgewendet. Aber schon nach wenigen Augenblicken senkte sein Blick sich warm und leuchtend auf mich nieder. „Verzeihen Sie mir!“ nahm er auf’s Neue das Wort, und mein Herz erbebte unter dem milden Zauber seiner Stimme. „Verzeihen Sie meine ungeduldige Hast! Ich weiß ja, daß Sie mich nicht lieben, nicht lieben können, aber lassen Sie mir nur ein Fünkchen Hoffnung, daß Sie es vielleicht eines Tages noch lernen werden, und vor allen Dingen, glauben Sie an mich! Strafen Sie mich nicht dadurch, daß Sie meine früheren leichtsinnigen Worte heute gegen mich in’s Gericht rufen! Blicken Sie nicht mit unerbittlicher Gedächtnißschärfe zurück auf die Irrthümer meiner Vergangenheit! Ich kenne sie; ich beschönige keinen derselben; ich sage einfach: verzeihen Sie und haben Sie die Geduld, meine Beichte anzuhören!“

Fragend und bittend zugleich ruhte sein Blick auf mir, und langsam erhob ich die Hand, die ich diesmal ohne weiteres Zögern in die seinige legte. Er beugte sich nieder auf meine Hand und streifte sie leicht mit den Lippen.

Ich zuckte unter dieser Berührung zusammen, aber ich machte einen schwachen Versuch zu lächeln und deutete nochmals auf den Sessel an meiner Seite. Hirschfeldt beachtete den Wink ebenso wenig wie vorhin. Immer die Augen fest auf mich gerichtet, begann er wieder:

„Sie wissen, daß ich Wéra liebte, bevor mich das Schicksal mit Ihnen zusammen führte. Ich glaubte sie mindestens mit allen Kräften meiner Seele zu lieben, und urtheilen Sie selber, Helene, ob es möglich ist, einem so lieblichen, hingebenden Geschöpfe, wie es Wéra Adrianoff ist, freien Herzens gegenüber zu stehen, ohne den Zauber ihrer Persönlichkeit auf sich wirken zu lassen! Bei Gott, es ist nie etwas aufrichtiger meines Herzens Meinung und mein Wille gewesen, als jeden Tag bereitwillig Kraft und Leben daran zu setzen, um mir Wéra’s Besitz zu erringen.

Da kamen Sie, Helene, eine ganz Andere, als alle jungen Mädchen, die ich bisher gekannt. Die Anmuth Ihres Wesens, Ihr Geist – o, bitte: unterbrechen Sie mich nicht! Gewähren Sie mir nur diesmal im Leben die Wohlthat, mich bis an’s Ende ruhig anzuhören! Ihr Geist, die ruhige Würde Ihres Benehmens fesselten mich täglich mehr, ohne daß ich mir dessen bewußt war. Sie erschlossen mir einen neuen Ideenkreis. Sie führten höhere Ziele vor mein Auge; ja, Helene, es ist die reine Wahrheit: Sie wandelten mich um zu einem anderen Menschen, der allmählich anfing, ziemlich gering über den Hirschfeldt früherer Tage zu denken. Ich glaubte mit Ihnen allein durch Achtung, Vertrauen und Freundschaft verbunden zu sein und begriff nicht, weshalb ich mitunter damals neben Wéra, die nur im Stande war, sich mit ihrer Liebe zu beschäftigen, Langeweile empfand. Ich gerieth in eine unglückliche, zerfahrene Stimmung, in der ich mich selber nicht mehr verstand. Was ich früher ersehnt und erstrebt, verblaßte zu meinem Schrecken von Tage zu Tage mehr in meiner Phantasie. Meine Gedanken schweiften in andere Bahnen; da kam die letzte, entsetzliche Katastrophe, Wéra’s Krankheit. Mein Interesse für sie erstarkte wieder an der Angst für ihr Leben. Ich nannte mich bereits in Verzweiflung ihren Mörder; ich glaubte für meine Liebe zu zittern und that es im Grunde doch nur für das Leben der Unglücklichen. Erst Constantin war es, der mich an jenem verhängnißvollen Morgen aus allen Zweifeln riß, aber auch in meiner Seele einen Sturm anfachte, an den ich noch heute mit Schaudern zurückdenke. Empört und erbittert, daß Wéra mich aufgeben konnte, fühlte ich dennoch klar und deutlich, daß sie noch ferner an mich zu fesseln, auch wenn ich die Macht dazu besessen, ein Verbrechen sein würde, denn, jetzt wußte ich es, ich liebte sie nicht mehr. Ich hatte unter tausend Qualen den großen Irrthum meines Lebens erkannt und konnte nur noch den einen Wunsch hegen, daß sie Glück und Vergessen finden möge, denn ich war nicht mehr im Stande, ihr Alles für Alles zu bieten: für das Opfer ihrer Existenz ein ungetheiltes Herz. Sie begreifen, daß ich trotzdem meinerseits Wéra niemals aufgegeben hätte, aber sie selber ersparte mir den schweren Kampf zwischen Herz und Ehre, indem sie mich ihren Standesinteressen opferte.“

„Wie ungerecht Sie sind!“ fiel ich ihm hier rasch in’s Wort. „Fräulein Adrianoff opferte nicht Sie ihren Standesinteressen, sondern sich selber ihrer Familie. Es war gekränkte Eigenliebe – es war der unverbesserliche Egoist, der soeben wieder aus Ihnen redete.“

Eine dunkelrothe Blutwelle flog hastig über das sonst so bleiche Antlitz meines Freundes, und doch blitzte es dabei wie ein Freudenstrahl in seinen Augen auf. „Gut!“ sagte er, „schelten Sie mich! Halten Sie mir unerbittlich meine Sünden vor! Darin erkenne ich einen Ton Ihres früheren Wesens wieder, anstatt der abscheulichen, höflichen Kälte, mit der Sie mich vorhin behandelten. Ich danke Ihnen dafür, und wie immer, ist das Recht auch diesmal auf Ihrer Seite. Ich lasse den Beweggründen, welche Fräulein Adrianoff leiteten, in meinem Herzen volle Gerechtigkeit widerfahren, aber verlangen Sie nicht, daß ich gerade heute noch darüber reden soll! Die Minuten sind zu kostbar für mich. Erst als ich damals Woronesch verlassen hatte, als ich das Geschehene aus der Ferne mit ruhigem Blute zu überdenken vermochte, wurde es in mir wieder still. Meine Seele fühlte sich urplötzlich wie von einem Bann erlöst. Es kam wie eine Befreiung, wie eine unendliche Erleichterung über mich, und ich wußte wieder, was ich wollte, was ich erstrebte – ganz klar wußte ich es; Muth, Zuversicht und am Ende die Hoffnung erwachten wieder in mir, aber Ihnen das Alles zu schreiben, Helene, wäre mir unmöglich gewesen. Auge in Auge mußte ich Ihnen eines Tages sagen, was in mir vorging, wenn ich auf Verständniß Ihrerseits hoffen wollte. Erst meinen Lebensplan feststellen, und dann mit Ihnen reden, das war meine Absicht und jetzt, da ich, kaum nach Moskau zurückgekehrt, Sie schon hier finde, segne ich diesen Zufall. Helene, da sehen Sie mich nun vor sich ganz, wie ich bin. Ihnen gegenüber wenigstens blieb keine Falte meines Innern verborgen. Ist es denn nicht möglich, daß Sie ein wenig Theilnahme für mich hegen? Sie haben mir einst gesagt, von dem Manne, dem Sie Ihre Liebe zuwenden könnten, verlangen Sie ein ganzes ungetheiltes Herz. Nun wohl, jeder Schlag des meinigen gehört Ihnen ganz, unwiderruflich und für immer. Was aus mir werden soll, wenn Sie es mit all seiner warmen Liebe von sich stoßen, das weiß ich nicht und schaudere, es zu denken.“

Ich hatte meinen Kopf in die Hand gestützt, ohne Hirschfeldt anzublicken, aber ich hörte auf seine Worte, wie auf die Töne einer fernen, lieblichen Musik, denen zu lauschen ich niemals ermüdet wäre. War denn nicht dies Alles ein himmlisch schöner Traum, der nach wenigen Minuten schon wieder in Nichts zerrinnen mußte?

Mein ungestümer Bewerber sorgte freilich dafür, daß ich an der Wirklichkeit dessen, was ich erlebte, nicht zweifeln konnte. „Ein Wort nur der Ermuthigung verlange ich heute von Ihnen,“ fuhr er fort, „das Versprechen, daß Sie mich nicht ganz von sich weisen, daß Sie es wenigstens versuchen wollen, mich kennen zu lernen, wie ich jetzt, wie ich durch Sie geworden bin.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_779.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)