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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Verfasser der „Insectenbelustigungen“, welcher uns die bissigen Feldgryllen mit Strohhalmen aus ihren Löchern zu ziehen gelehrt hat, erzählt, wie dieselben einst in seiner Schachtel, beim Nachhausetragen, ein so gellendes Angstconcert vollführten, daß er eiligst laufen mußte, um nicht der lieben Straßenjugend zum Gespötte zu werden. Aber dieser getreue Naturbeobachter erkannte bereits, daß es doch meistens Liebeslieder seien, welche diese kleinen Geiger zum Besten geben, und dieser Gedanke ist uns auch viel sympathischer, als wenn wir einen Musikanten uns vorstellen sollen, der, wie jener in die Bärengrube gefallene Baßspieler, die ganze Nacht aus purer Angst geigt.

Die ersten Verwandten der Gradflügler, welche in das Naturconcert mit einstimmten, dürften ihre muthmaßlichen Leibeserben, die Käfer gewesen sein, von denen einzelne ebenfalls ziemlich laute Streichmusik hervorbringen. Doch ist die Lage der Geige bei diesen Thieren meist eine andere; die Schrillader befindet sich gewöhnlich auf einem der Querringel des Hinterleibes oder der Brust, die sich, wie die Auszüge eines Fernrohres, auseinander- und zusammenschieben, wobei die Musik durch die Reibung gegen Brust- oder Flügeldecken hervorgebracht wird. Die bekannten Todtengräberkäfer tragen zwei solcher Schrillleisten auf dem fünften, breiteren Hinterleibsringe und benutzen dieselben vermuthlich, um ihre Brüderschaft zum Begräbnisse der kleinen Feldleichen, dessen sie sich mit so vielem Eifer unterziehen, herbeizurufen.

Am bekanntesten unter den zirpenden Käfern sind wohl die kleinen Lilienhähnchen und die oft sehr ansehnlichen Bockkäfer, die mit ihren langen, hörnerartig zurückgebogenen Fühlern, einem Steinbocke gleich, paradiren. Da bei ihnen Männchen und Weibchen besonders laut zirpen, wenn man sie angreift, so ist es wahrscheinlich, daß sie durch dieses sanfte Gebrüll den Angreifer in Schrecken zu setzen und in die Flucht zu jagen hoffen, ähnlich wie zankende Menschen einander durch Schreien den „Marsch blasen“. Merkwürdig erschien es nun, daß die kleinsten Bockkäferarten, wenn man sie angreift, genau dieselben, bei ihren großen Vettern das Zirpen hervorrufenden Auf- und Abwärtsbewegungen mit Kopf und Vorderbrust machen, ohne daß man den geringsten Laut vernähme. Prof. Dr. H. Landois in Münster, welcher die Untersuchung der Tonapparate bei Insecten und anderen Thieren zu seinem Specialstudium gemacht hat, und dessen unlängst erschienenem, jedem Naturfreunde dringend zu empfehlenden Buche über die „Thierstimmen[1] wir mancherlei Belehrung und Anregung zu dieser Schilderung verdanken, untersuchte nun einige dieser kleinen Bockkäfer genauer und fand sie nichtsdestoweniger ebenfalls mit Schrilladern begabt. Allein während der bekannte große Eichenholzbock (Cerambyx heros) auf seiner viertehalb Millimeter langen Schrillader zweihundertachtunddreißig Rillen besaß, zeigte der kleine rothhörnige Blüthenbock (Grammoptera ruficornis) auf einer wenig über den neunten Theil so langen Leiste bereits einhundertdreizehn Rillen, also auf eine gleiche Ausdehnung hin etwa viermal so viel als jener. In Folge dessen mag der Ton, welchen der kleine Bockkäfer hervorbringt, mehrmals so hoch sein, wie der des Eichenbocks, und das geht weit über unsern Horizont; wir hören die Drohungen des kleinen Schmähers nicht – es ist stumme Musik für unser Ohr.

Es mag gar viele Naturtöne geben, welche uns in ähnlicher Weise wegen ihrer Höhe entgehen. Das menschliche Gehör umfaßt die Töne von dreißig Doppelschwingungen auf die Secunde als tiefste, und bis zu fünfundzwanzigtausend Doppelschwingungen als höchste Töne. Aber nicht bei allen Menschen reicht die Empfänglichkeit des Gehörorgans so hoch hinauf, und wenn in einer Gesellschaft älterer Personen eine Stufenleiter immer höherer Töne hervorgebracht wird, so tritt endlich der Fall ein, daß sich Einzelne über das ohrschmerzende Gellen derselben beklagen, während Andere sie verwundert anblicken, da sie gar nichts mehr von denselben vernehmen. Ich selbst habe einen alten feinhörigen Herrn gekannt, der, wenn wir an Sommerabenden zusammen im Garten saßen und über das unerträgliche Geschrill der Laubheuschrecke sprachen, uns auslachte, da für sein Ohr eine vollständige Abendstille herrschte, ein Verhältniß, welches übrigens nach Wollaston’s Beobachtungen sehr häufig vorkommen soll. Die vor vielen Jahrzehnten ausgesprochene Vermuthung dieses Physikers, daß es Thiere geben könne, deren Lautäußerungen für immer dem Wahrnehmungsvermögen des menschlichen Ohres entrückt seien, hat Prof. Landois, wie wir sehen, auf das Glänzendste an den Bockkäferchen bestätigen können, und auch bei den Bienen-Ameisen (Mutilla) fand dieser Forscher Tonapparate, deren Schallwellen unser Ohr offenbar nicht mehr anregen können. So mögen vielerlei Naturstimmen dem Menschen, dessen Sinnen nur eine mittlere Empfindungssphäre zukommt, ebenso entgehen, wie die schnelleren Lichtwellen, die man dunkle oder chemische Strahlen nennt.

Zu den Geigern aus der Classe der Gradflügler hatten sich bereits im Steinkohlenwalde in den zu den Netzflüglern gehörigen Termiten und deren gefräßigen Verwandten Trommler und Tactschläger gesellt, die noch heute mit regelmäßigem Aufschlagen ihrer Kiefer einander Zeichen geben und sich locken. Der Todtenuhrkäfer, welcher mit seinem Ticktack schon so manches abergläubische Gemüth in Schrecken gesetzt hat, benützt also nur ein Verständigungsmittel, welches bereits die Insecten des Steinkohlenwaldes ausprobirt haben und welches von ihm wiederum die Klopfgeister gelernt zu haben scheinen. Statt uns zu erschrecken, ist die Todtenuhr vielmehr höchlichst geeignet, uns die Langeweile schlafloser Nächte zu verkürzen, sobald wir uns erinnern, daß der in unsern Möbeln klopfende Bursche ein liebebedürftiges Wesen ist, der eine Freundin bittet, ihm ein Zeichen zu geben, um sie in den dunkeln Gängen finden zu können, und sein Liebesgetrommnel fortsetzt, bis er Erhörung gefunden. Da die Weibchen Antwort klopfen, so können wir mit diesen Thieren leicht ein Gespräch anknüpfen, indem wir mit dem Zeigefingernagel abwechselnd mit ihnen auf das Holzwerk pochen und so durch ein Klopfduett ihrer Sehnsucht Nahrung geben. Gar mancher unserer modernen Spiritisten, der sich mit einem Geiste zu unterhalten glaubte, dürfte mit einem verliebten Käfer zu thun gehabt haben, und dieselbe Beobachtung ist es wohl, welche den alten Wahrsager Melampus in den Ruf gebracht hatte, die Sprache der Holzwürmer zu verstehen und sich mit ihnen unterhalten zu können.

Die ersten geflügelten Wesen, welche die junge Vegetation umschwirrten, scheinen durchweg nur Instrumental-, aber keine Vocalmusik geübt zu haben. Unter denn Patriarchen der Insectenwelt, den Gradflüglern, Netzflüglern und Holzkäfern, giebt es selbst heute kaum mit einer wirklichen Bruststimme musicirende Vertreter. Die Flötisten und Posaunisten im Naturconcerte, die Pfeifer und Fagottisten erschienen erst später. Wir wissen nicht, ob die Amphibien, welche als Erstlinge des Wirbelthierreiches die Gewässer der Steinkohlenwälder belebten, vielleicht diesem Mangel abgeholfen haben, es ist aber nicht wahrscheinlich, denn sie näherten sich mehr dem schweigsamen Geschlecht der Molche und Salamander, als demjenigen der geschwätzigen Frösche. Und gerade deshalb hat das Gezirp der Heimchen und Gryllen, der Feld- und Laubheuschrecken für den Naturkundigen einen so entschieden urweltlichen Charakter, und wir sind entschuldigt, daß wir uns von denselben auf ein Stündchen in vorsündfluthliche Träumereien einlullen ließen.

Carus Sterne.



Der Ultimus.
Ein Lebensbild von Ferdinand Dieffenbach in Darmstadt.

„Setz’ Dich, Liebig! Du bist ein Schafskopf.“

Der, welcher so sprach, war Herr Johann Justus Storck, Conrector am Gymnasium zu Darmstadt, ein gefürchteter Schulmonarch, der sich durch seine Ausgaben der Fabeln des Phaedrus und des Cornelius Nepos auch eine gewisse literarische Unsterblichkeit von kurzer Dauer im Kreise der hessischen Schuljugend erworben hat.

Der mit dem Titel „Schafskopf“ Beehrte war Justus

  1. Freiburg im Breisgau 1874, Herder’sche Buchhandlung.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_789.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)