Seite:Die Gartenlaube (1875) 794.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Selbst im Prater, gelegentlich der großen Weltausstellung des Jahres 1873, war unser wackerer Landsmann seinen europäischen Collegen und Preisrichtern kein Fremder mehr; sie gingen in der Anerkennung des seltenen Vereins künstlerischer und technischer Gediegenheit seiner Arbeiten so weit, der Regel, welche die Verleihung einer doppelten Auszeichnung an einen und denselben Aussteller verwehrte, entgegen, für ihn eine Verbindung der industriellen Fortschritts-Medaille mit der eigens für die Kunstgruppe bestimmten Geschmacks-Medaille zu beschließen. Sie kannten ihn bereits vom Pariser Marsfelde her, wo er 1867 New-York (von jeher ein Paradies der Photographen, dieser echtesten „Schwarzkünstler“ unserer Tage) in würdigster Weise vertreten und seinen ersten großen Erfolg eingeheimst hatte. Aber welch ein Zeitraum sind für einen rastlos Vorwärtsstrebenden in Amerika sechs Jahre! Unserm deutschen Schwarzkünstler hatten sie genügt, um seinen bescheidenen Anfang in der Bowery gegen eine stattliche, mit jedem Jahre sich mehr und mehr ausdehnende Kunstwerkstätte am oberen Broadway zu vertauschen, und als selbst diese, obwohl bereits die umfangreichste der Stadt, sich nicht mehr hinreichend erwies, einen eigenen Bau in jenem bereits charakterisirten Mittelpunkte der Metropole zu errichten, wie ihn die Photographie bisher weder auf dieser noch auf der andern Seite des Oceans besessen. Ein derartiger Erfolg kann jedes besonderen Lobes entrathen. Es genügt, den Weg zu bezeichnen, der in so kurzer Zeit zurückgelegt worden, um das Beste und Bezeichnendste, was sich über ihn sagen läßt, gesagt zu haben.

Der Kurtz’sche Neubau – von dem gelegentlich seiner Eröffnung nicht nur die gesammte New-Yorker Presse, sondern auch eine Anzahl hervorragender Blätter Deutschlands eingehend und anerkennend Notiz nahmen – der Kurtz’sche Neubau erstreckt sich über eine Baufläche von fünfzig Fuß Breite und zweihundert Fuß Tiefe. Der vordere, in Eisen und Glas ausgeführte Theil des Gebäudes, dessen seiner artistischen Bestimmung nicht unentsprechend phantastische Front zu einer Gesammtfläche von fünfundsiebenzig Fuß aufragt, dient, mit Ausnahme des Erdgeschosses, in allen seinen Räumen ausschließlich der Schwarzkunst seines Eigenthümers.

Das erste Stockwerk, zu dem ein äußerst geräumiges Treppenhaus emporführt, enthält die Empfangslocalitäten und die Geschäftsbureaux, das zweite und dritte, mit ihren breiten gläsernen Ausbauten und einfallenden Lichtern, die Ateliers nebst deren Zubehör von Toilette- und Wartezimmern, Alles in prächtigster und geschmackvoller Ausstattung, mit dem verschiedenartigsten Aufnahmezubehör und reicher bildlicher Ausschmückung, darunter verschiedene Köpfe, welche uns lehren, den Hausherrn auch in seinem ursprünglichen Berufe, dem eines Portraitmalers, zu schätzen. In der Mitte des Gebäudes und von dem Geschäftstheile desselben durch die eigentlichen geheimen Werkstätten, die bekannten finsteren Kammern, die Druckerräume, die chemischen Vorrathsgelasse etc. geschieden, erhebt sich durch zwei Stockwerke ein großer Ausstellungssaal für Gemälde und Zeichnungen. An diesen sich anschließend, erstreckt sich nach der rückwärts liegenden Straße und mit seinem Haupteingang von dieser her das Clubhaus des New-Yorker „Malkastens“, des Künstlerclubs „Palette“ mit seinen Restaurations-, Gesellschafts- und Studienräumlichkeiten. Der Ausstellungssaal (Kurtz’ Art Gallery) mit seinen stattlichen Raumverhältnissen, seinem bequemen Eingange und tadellosen Oberlichte ist ohne Zweifel die beste Anlage dieser Art in der Stadt und offenbar berufen, in nicht zu ferner Zeit für ihre Malercolonie dieselbe Rolle zu spielen, wie die Steinway-Hall in ihrem Musikleben. Eine in ihr zur Feier der Uebersiedelung der „Palette“ abgehaltene Ausstellung bot die Gelegenheit, die neue Kunsthalle alsbald in ihrer künftigen Bestimmung zu erproben. Diese Probe fiel ausgezeichnet aus, und mit Recht sagte damals der „New-York Herald“, sicherlich das letzte amerikanische Blatt, welches sich ohne die zwingendste Nöthigung zur Anerkennung eines deutschen Unternehmens herbeiläßt: „W. Kurtz hat Alles gethan, was gethan werden konnte, um seinen Bau zu Dem zu machen, was er sein soll und sein wird – zum Kunstmittelpunkte von New-York.“ Und wenn es nicht der „Herald“ gewesen wäre, hätte das Blatt hinzufügen können: „Und zu einem der rühmlichsten Zeugenmale deutscher Fähigkeit und deutscher Ausdauer auf amerikanischem Boden.“

New-York, 1875.

Udo Brachvogel.




Judas, der Erzschelm.


Eine Charakterstudie.


Armer Ischarioth! Wie ist es dir nach deinem unseligen Ende im Laufe der Zeiten ergangen – welche Wandlungen hast du erlebt! Keine Ruhe haben sie dir gelassen in deinem selbstgeschaffenen Grabe. Der Fluch von Jahrhunderten hat dich über dasselbe noch weit hinaus begleitet, hat dich immer von Neuem wieder in Wort und Bild verfehmt, gehenkt und zerbersten lassen. Ja, dieser Fluch und Haß hat sich auf dein ganzes Volk übertragen. Mit Feuer, Schwert und Strick hat die gläubige Christenheit es fast das ganze Mittelalter hindurch verfolgt, gemartert und vernichtet um deines Verrathes an dem Herrn willen. Als das verworfenste sittliche Scheusal ausgestellt an dem Pranger der christlichen Liebe, überliefert an den Satan, ja, ihm verlobt von Kindesbeinen an, im Judas-Kusse und Judas-Lohne begrifflich gebrandmarkt für alle Zeiten – hat auf einmal in dem aufdämmernden Lichte einer humanern Zeit dein Schicksal fröhlich sich gewandelt. Man hat sich deiner in Gnaden erbarmt, hat dich wieder heraufgeholt aus dem tiefsten Schlunde der Hölle, in welchen der Fanatismus christlicher Gläubigkeit dich gestoßen, und dir wieder ein menschliches Gewand umgeworfen. Ja, noch mehr als dies. Unter der Sonde des Psychologen, aber noch weit mehr unter dem Zauberstabe des Poeten ist aus dir, dem großen Sünder, ein fast ebenso großer Heiliger geworden. Wie durch die Pilatus-Wäsche eines modernen Gelehrten aus dem Urbilde aller grausamen Tyrannen, aus dem finstern Tiberius ein Muster von Herrschertugend sich herausgeschält hat, also hat die Theologie so gut wie die Poesie den schnödesten aller Verräther zum Träger und Märtyrer einer berechtigten Idee gestempelt und ihm den idealen Strahlenkranz eines tragischen Helden auf die gebrandmarkte Stirn gedrückt.

Die Angaben der Heiligen Schrift über Judas sind nur dürftig, so dürftig, daß David Strauß bemerkt: Wie Jesus dazu kam, einen solchen Jünger zu erwählen, und wie Judas dazu kam, ihn zu verrathen, das werde uns durch die drei ersten Evangelisten nicht begreiflich, durch Johannes geradezu unbegreiflich. In der Jüngerschaft Jesu spielt Judas lange Zeit keine Rolle. Wir erfahren eigentlich erst etwas von ihm bei der Salbung Christi durch Maria Magdalena. Da murrt er wider die Verschwendung des kostspieligen Nasses. Das hat ihm den Vorwurf des Geizes eingebracht, und da ihn Matthäus unmittelbar darnach zu den Hohenpriestern gehen läßt, auch den Geiz zum Motive seines Verrathes gestempelt. Dann treffen wir ihn wieder beim Passahmahle, wo Christus ihn bestimmt als seinen Verräther bezeichnet und nach Johannes ihn geradezu auffordert, die verbrecherische That zu vollziehen, indem er zu ihm sagt: „Was Du thust, das thue bald!“ Nach diesem Evangelisten ist erst in diesem Momente der Entschluß zum Verrathe in Judas gereift – ein Moment psychologisch so bedeutsam, daß er von den meisten späteren Judas-Erforschern als Ausgang ihrer Forschungen festgehalten worden ist. Dann kommt die Scene in der Nacht zu Gethsemane. Des Judaskusses geschieht bei Johannes keine Erwähnung. Der die That vorauswissende Meister überliefert sich da freiwillig den Häschern. Nur bei Matthäus und im Eingange der Apostelgeschichte erfahren wir etwas über das weitere Schicksal des abtrünnigen Jüngers, über seine Reue, seine Rückgabe des Blutgeldes, seinen Selbstmord. Eine spätere Legende ließ seinen Leib, seinen Kopf und seine Augenlider aufschwellen, und da er wegen seines Körperumfangs und seiner Blindheit einem entgegenkommenden Wagen nicht ausweichen konnte, ihn von diesem überfahren werden, „so daß ihm die Gedärme aus dem Leibe quollen“. Die spätere

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_794.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)