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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

ihren Ekstasen etc. die größte Aehnlichkeit mit dem der Nachtwandler und Magnetisirten darbietet, und begreifen die Nothwendigkeit einer genaueren Untersuchung mit völliger Bewachung, wie sie Warlomont am Schlusse seines Berichtes betont, vollständig. Er hat gezeigt, daß Louise Lateau ein ausgezeichnetes Beispiel einer Krankheit, deren Vorhandensein man bisher geleugnet hat, darbietet, und daß es somit unverzeihlich sein würde, wenn die belgische Regierung nicht den Aerzten die Möglichkeit gewähren wollte, diese Kranke ohne Einmischung der sie bisher streng überwachende Klerisei zu untersuchen. Natürlich würde es im eigenen Interesse der medicinischen Wissenschaft liegen, daß die Kranke mit der größten Schonung behandelt und wie bisher eher in dem Glauben, daß ihre Krankheit einen übernatürlichen Ursprung habe, bestärkt werde, als daß man ihr alsbald mit geistigen und körperlichen Pflastern zu Leibe gehen dürfte.

Carus Sterne.     


Der amerikanische Reporter.

Von Max Horwitz.

Oft und viel ist über das amerikanische Zeitungswesen geschrieben worden. In gelehrten Abhandlungen hat man seine Vorzüge und Nachtheile hervorgehoben. Als ausgesprochenster Vertreter jener Großmacht, welche man vor der Neugestaltung Italiens als die sechste zu bezeichnen pflegte, der öffentlichen Meinung, hat es sich einen Namen gemacht. Hin und wieder hat man ungläubig den Kopf geschüttelt, wenn man las, daß eine Zeitung aus eigenen Mitteln eine Frage löste, mit der Nationen sich Jahrzehnte vergeblich beschäftigt, wie der „New-York-Herald“ die Auffindung Livingstone’s durch Stanley, aber endlich hat man sich denn doch überzeugt von dem Rechte der Presse, sich eine Großmacht zu nennen. Es soll in diesen Zeilen auf den Unterschied zwischen den Zeitungen diesseits und jenseits des Oceans nicht eingegangen, vielmehr stillschweigend zugegeben werden, daß der tiefe sittliche Gehalt, der die Presse auszeichnen soll, in den Zeitungen Deutschlands stärker ausgeprägt ist, als in denen Amerikas.

Das, was die amerikanische Zeitung sein will, drückt sie ganz genau in ihrem Namen aus: ein news-paper, ein Neuigkeitsblatt. Diesem Generaltitel wird sie nie untreu, unter welchem Namen sie auch erscheinen mag. Der politische Artikel, das Besprechen der Neuigkeit kommt erst in zweiter Reihe – das erste Erforderliche ist die Neuigkeit selbst in möglichster Breite und Tiefe. Das amerikanische Lesepublicum ist von der in ewigem Wettrennen befindlichen Presse verwöhnt – in Amerika giebt es weit mehr Zeitungsleser als in irgend einem anderen Lande der Welt – und zwingt die Presse nun selbst, auf dem einmal betretenen Pfade vorwärts zu gehen; sie befindet sich in der Lage des Zauberlehrlings und wird die Geister nicht wieder los, die sie rief. Ob es sich um welterschütternde Ereignisse oder um die unbedeutendsten, ja gleichzeitig verwerflichsten Dinge handelt, ob auf dem Schlachtfelde von Sedan Germanen und Gallier in heißem Kampfe um die Erleuchtung oder Verfinsterung der Welt ringen, oder ob Jimmy Mac Guire’s Bulldogge und Mike O’Reilley’s Neufundländer in fünfundzwanzig Rundgängen sich zerfleischen, um ihrem Besitzer den Betrag der über den Ausgang des Kampfes gemachten Wette einzubringen, gilt ganz gleich, – der Bericht darüber wird erwartet. Die Aussteuer der Tochter des Präsidenten muß bis auf die geheimsten Gegenstände der weiblichen Toilette eingehend beschrieben sein, aber auch über den Ball, mit dem Miß Castello, Vorsteherin eines unmoralischen Institutes, ihr neues Haus einweiht, erwarten die Leser vieler Blätter eine eingehende Besprechung. Es giebt nichts unter der Sonne, soweit es im Bereiche menschlicher Erforschung liegt, das sich der öffentlichen Besprechung entziehen könnte. Mit derselben Treue werden eine Reise des Präsidenten und ein Picnic der Schusterjungen besprochen. Die Zeitung muß an jedem Morgen ein getreuer Spiegel der Vergnügungen und Ereignisse des vorhergehenden Tages sein. Eine Zeitung, die sich von diesem ersten Erforderniß des ‚news-paper‘ lossagen wollte, dürfte sich ruhig zu den Todten rechnen.

Die absonderliche Blüthe, und zwar specifisch amerikanische Blüthe, welche diese Eigenthümlichkeit der amerikanische Presse getrieben, ist der Reporter oder Berichterstatter. Es müßte interessant sein, ein Exemplar dieser Species, der seinem Berufe eine Reihe von Jahren treu gedient hat, nach dem Ableben anatomisch untersuchen zu lassen. Es würde sich da ganz sicherlich herausstellen, daß drei Theile seines Körpers sich ganz besonders entwickelt haben: die Ohren, welche fast Ungesprochenes hörten, die Augen, welche nahezu durch Mauern sahen und schließlich, und nicht am unwichtigsten, die Beine, – Beine mit unsichtbaren Meilenstiefeln, welche im Fluge die Ohren und Augen bald hierhin, bald dorthin trugen, die unermüdlich und rastlos überall und nirgends waren. Diese drei Dinge bilden das Handwerkszeug des Reporters; mit ihm ausgerüstet, stürzt er sich täglich hinein in den Strudel des öffentlichen Lebens, von welchem er allerdings manchmal auch, wenn er nicht geschickt zu steuern weiß, ergriffen und in den Abgrund gerissen wird. Mancher Bericht fand seinen Abschluß mit dem Begräbnisse des Schreibers – „eine Kugel kommt geflogen“ – –

Nun, mich hat keine getroffen, obwohl eine wenigstens mir sicher zugedacht war, und so kann ich denn aus meinen Erinnerungen und dem, was zu meiner Kenntniß gekommen, Einiges hier anfügen.

Die amerikanische Zeitung – auch die deutsche Zeitung in Amerika – hat ihren eigenen Stab von Reportern. Der Localredacteur – ein literarischer Moltke – sitzt an seinem Pulte und entwirft früh Morgens den Schlachtplan für den ganzen Tag. Auf ein volles Jahr hinaus ist jedes bevorstehende Ereigniß, auch das kleinste, soweit man von seinem Stattfinden Kenntniß erhält, in einen Tageskalender eingetragen, so daß man genau darüber unterrichtet ist, welche Dinge sich abspielen werden. Aus der Reihe seiner Reporter, die sich bei nennenswerthen Blättern englischer Sprache selten unter fünfzehn beziffert, wählt er dann für jede Berichterstattung den ihm am geeignetsten erscheinenden aus. Für die Dinge aber, welche sich nicht angemeldet haben, schickt er eine Anzahl anderer Reporter aus.

Nun ist dem Berichterstatter das Arbeiten im Großen und Ganzen allerdings leicht gemacht. Er steht mit dem Publicum auf dem beste Fuße, denn er ist ein einflußreicher Mann. Wo das, über was er berichten soll, nicht absolut heimlich gehalten werden soll, bringt man es ihm fast entgegen und mit Routine und Arbeitskraft kommt er durch. In Versammlungen findet er einen Tisch und gute Schreibmaterialien neben der Rednerbühne; Beschlüsse überreicht man ihm fast immer in sauberer Abschrift. Bei einem Festessen ist sein Couvert so gelegt, daß er Alles überblicken kann. Seine Karte öffnet ihm unter normalen Verhältnissen jede Thür. Jedes Schloß springt vor ihm auf. Selbst der Präsident läßt sich nicht verleugnen und mancher Bankpräsident ist schon spät Nachts aus dem Schlafe geklingelt worden, um durch den Reporter eine Frage an sich gerichtet zu sehen. Der Allgefürchtete geht durch die städtischen und Staatsbureaux, unterbricht die Beamten in ihrer Arbeit, spricht mit ihnen, liest die auf dem Pulte liegenden Papiere und schnüffelt in den Büchern, wenn sie nicht schnell genug vor ihm versteckt worden. Er ist als kriegführende Macht anerkannt; man weiß, daß er auf Raub aus ist, und man verübelt ihm nicht nur nicht, wenn er alle Mittel in Bewegung setzt, Neuigkeiten zu erhaschen, sondern lobt ihn noch, etwa mit alleiniger Ausnahme Desjenigen, den er überrumpelte. Er ist also schlau und – es sei ein Ausdruck gestattet, der bezeichnend ist – „unverfroren.“

Vor ungefähr drei Jahren, als der damalige Beherrscher New Yorks, Tweed, die ersten Stimmen der über ihn ergangenen Anklagen auszuhalten hatte, die ihn ja auch in’s Zuchthaus brachten, zu jener Zeit, als man ihn beschuldigte, nicht weniger als zwölf Millionen Dollars aus dem Stadtsäckel gestohlen zu haben, war es der Ehrgeiz jeder Zeitung, eine Unterredung mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_807.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2022)