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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Blätter und Blüthen.

Der erste Ball (Mit Abbildungen, S. 808 u. 809) Sechszehn Jahre und Nachbars Lieschen! – Es war ein warmer Spätsommerabend. Wir saßen auf dem hohen eisenumgitterten Granitvorbau, welcher als gemeinsame Estrade vor den beiden alterthümlichen Hansahäusern, meinem und ihrem Elternhause, hinlief. Der Abendsonnenschein fiel röthlich durch Giebel und Erker auf die breite, helle Straße herab, und vom nahen St. Marienthurm klang bei jedem Stundenschlag – wir hatten gar so lange geplaudert und geträumt – das prächtige mittelalterliche Glockenspiel helltönig zu uns hernieder. Von den Tagen der frühesten Kindheit hatten wir geplaudert, da wir noch in traulicher Winterstille in der engen Mansarde oder, wenn der lustige Frühling kam, auf dem geräumigen hallenden Hofe hinter dem Hause gespielt, von den seligen Tagen der Kindheit, die nun längst dahin waren – längst; denn wir waren ja vernünftige, große Menschenkinder geworden, ich sechszehn- und sie vierzehnjährig. „Ja, was jetzt nur kommen mag?“ fragten wir uns heute; lag doch die Welt geheimnißvoll, wie ein fernherwinkendes Fragezeichen, vor uns – und was da kam, das war etwas Großes, Welterschütterndes – der erste Ball. Werner’s Fritz gab einen Thé-dansant, und wir waren dazu geladen.

Es ist ein seltsam Ding – was ich da auf meinem ersten Balle erlebte, das finde ich, als hätte ein unsichtbarer Geist meine Jugendliebe belauscht und in Wort und Bild festgehalten, heute, nach so viel Jahren, in einer glänzend ausgestatteten Sammlung von Zeichnungen und Versen wieder, die soeben für den diesjährigen Weihnachtstisch in die Welt hinausgeht. „Der erste Ball“ (Stuttgart Julius Hoffmann) ist eine Reihe von Radirungen nach Skizzen von K. Koegler, trefflich in Stahl gestochen von Professor Rudolf Geißler und begleitet von einem ansprechenden poetischen Texte von J. Trojan.

Der erste Ball! Ich sehe mich noch heute, gerade wie der junge Fant auf dem vordersten Bilde der Koegler’schen Zeichnungen, im schmucken Tanzcostüm durch die Straßen der alten Stadt gehen, das Herz von stolzer Siegesahnung voll – denn Lieschen sollte ja auch kommen. Und sie kam. Ich tanzte mit ihr ein Pas de deux, wie der junge Cavalier mit dem anmuthigen Backfischlein auf unserem Bilde, nur drehten wir uns nicht mit der unanfechtbaren Grazie, die der talentvolle Zeichner den liebreizenden Gestalten dieser, wenn ich so sagen darf, Tanzidylle geliehen hat. Grazie oder nicht Grazie – einerlei: Lieschen legte ihre kleine Hand so sanft in die meinige, und unsere Augen lernten an diesem Abende – wie mochte das nur geschehen? – eine ganz neue Sprache sprechen. Der Cotillon kam; ihre Blicke fanden mich, und unter Erröthen – Herr Koegler, trefflicher Schilderer mit dem Griffel, Sie müssen uns wirklich belauscht haben – heftete sie einen großen bunten Orden an meine hochklopfende Brust, ich aber hätte in diesem Moment mit keinem Könige der Erde getauscht.

Was wir sprachen? Welche Frage! Worte, nicht für das Ohr eines Dritten gemacht. Drum suchten wir – es war uns zu heiß im Saale – ein stilles einsames Fleckchen auf, indem wir, dennoch heiße Worte hinter Lieschen’s Fächer flüsternd, tänzelnd durch den Saal und in das stillere Nebenstübchen schritten – ganz wie die Liebenden auf unserem zweiten Bilde. Ah, dieser Zeichner ist ein gefährlicher Mensch; mit gewandter Feder schreibt er das Leben ab; denn just wie der verliebte Knabe hier entfloh ich, mein Lieschen am Arme, dem Gedränge und Gesumme der Tanzenden. Endlich allein! Ja, Herr Koegler, Sie haben scharfe Augen; denn die Scene, welche Sie auf Ihrem nächsten Bilde mit so unübertrefflichem Humor gezeichnet, wir haben sie aufgeführt. So, gerade so saßen wir auf dem schön gepolsterten Sopha im stillen Gemach, die Liebe von sechszehn Jahren in eigenster Person. Und die folgende Scene? Nun – wie hätte es anders kommen können? – es brannte Mund an Mund in seligem Entzücken, nur nicht mit der vollendeten künstlerischen Technik, die unser Zeichner auf seinem Bilde entwickelt. Es ist doch etwas Wunderbares um den ersten Kuß, aber flüchtig, wie alles Schöne auf der Erde, war auch diese Minute.

„Kinder, seid Ihr des Teufels?“ erscholl eine Stimme hinter uns, die Stimme von Lieschen’s Mutter. Genau wie in dem Album rang sie komisch-ernst die Hände, schmollte halb und lachte halb, und mit einer sehr verständlichen Handbewegung nach der Thür lieh sie ihrem Zorne eine mimische Verdeutlichung – lautlos verduftete ich. Das war das schreckliche, allzu frühe Ende meines Liebesromans, von dem ich geträumt hatte, er solle mein Leben ausfüllen. Liebe von sechszehn Jahren, auf wie schwachen Füßen stehst du doch! Am anderen Morgen begrub ich in Thränen des Katzenjammers meine holde „Jugendeselei“, wie das geflügelte Wort jene Flitterwochen des Lebens nennt. Damit schloß mein Hangen und Bangen von damals, und mit einem ähnlichen Bilde schließt heute die reizende Sammlung der Zeichnungen unseres Künstlers. Dann kamen andere Zeiten für mich – was weiß ich, wo meine Liebe hin ist? Heute erwacht sie wieder, die so lange versunkene Erinnerung – und daran sind Sie schuld, Herr Koegler mit Ihrem „Ersten Ball“, und Sie, Herr Professor Geißler, der Sie diese auf graziösen Kinderzehen schwebende Liebesgeschichte so prächtig in Stahl gestochen.

Lebt mein Lieschen noch? Weilt sie noch, nun wohl eine stattliche Elisabeth, in der alten Stadt mit den hohen sonnendurchleuchteten Giebeln und Erkern? Wer weiß es! Wohl möchte ich noch einmal durch jene breiten Straßen gehen – und das müßte am Weihnachtsabend sein. Dann legte ich ihr heimlich auf den lichtbestrahlten Festtisch diesen „Ersten Ball“ – ein Lied aus der alten Zeit, aus den sonnigen Tagen der Kindheit, da wir noch auf der hohen eisenumgitterten Estrade saßen vor dem Hause der Eltern und das helle Glockenspiel zu uns herniederklang von Sanct Marien.


Von einem Vielgenannten. Durch die Freundlichkeit eines angesehenen Mitbürgers ist uns ein von hervorragender Seite an denselben gerichteter Privatbrief zugestellt worden, der eine auf die „Gartenlaube“ bezügliche Stelle enthält. Bei dem Belang des darin berührten Punktes glauben wir der betreffenden Aeußerung hier einen Platz vergönnen zu müssen. Es heißt in dem Briefe:

„Ihre Frage nach bestimmter Auskunft über das Befinden des Dr. Lasker kann ich nur dahin beantworten, daß sich derselbe zwar in erfreulicher Weise von seiner lebensgefährlichen Krankheit erholt hat, daß seine Gesundheit aber noch immer angegriffen ist und der sorgfältigsten Schonung bedarf. Es widerlegen sich durch diesen so einfachen Umstand alle jene Gerüchte, die das Publicum unserer für Geschichtenträgerei und Mythenbildung so empfänglichen Tage schon hier und da nach sachlich gar nicht vorhandenen Gründen suchen ließen, durch welche das Ausscheiden Lasker’s aus der Justizcommission des Reichstags veranlaßt sei. Er wird eben aus naheliegenden Gesundheitsrücksichten noch längere Zeit seine parlamentarische Thätigkeit einschränken müssen, und es ist zu wünschen, daß er diesen Vorsatz festhält, da die Nation doch wahrlich kein Interesse daran hat, ausgezeichnete und ihrer Sache nothwendige Männer vorzeitig im Dienste derselben sich aufreiben zu sehen. Da ich aber von der Neigung unserer Zeit für Gerüchts- und Sagendichtung spreche, kann ich nicht umhin, einer recht curiosen, ja frappirenden Bemerkung zu gedenken, die sich in dem letzten jener Artikel findet, welche die ‚Gartenlaube‘ seit einigen Monaten über den Börsen- und Gründungsschwindel bringt.

Man braucht Lasker nicht sehr nahe zu stehen, um zu wissen, daß schon seinem klaren Einblicke in die Verhältnisse ein abenteuerliches Speculiren auf einen ‚Ministersessel‘ jederzeit gänzlich fern gelegen hat. Wer kann vorher sagen, ob ihn und manchen Anderen nicht einmal ein schwieriger Moment, eine ernste Wendung im Vaterlande auf einen hohen Verwaltungsposten berufen wird? Träte aber eine solche Forderung an ihn heran, so würde er bei dem strengen Gedankenernste, bei der Idealität und bescheidenen Selbstlosigkeit seines genügsamen und uneigennützigen Wesens das auf sich nehmen wie eine schwere Pflicht, der er sich nicht entziehen dürfe, der er mit ausdauerndster Hingebung seine ihm so lieb gewordene Unabhängigkeit und den letzten Tropfen seiner Kraft zu opfern habe. Es würde genug sein, wenn in dem betreffenden Passus jenes Artikels nur hätte angedeutet werden sollen, daß Lasker sein Streben und Sein auf die Erlangung eines Ministerpostens eingerichtet habe. Es ist aber mehr darin gesagt; es wird sogar dieses angebliche Streben Lasker’s in einen aller Welt bisher unbekannt gebliebenen Zusammenhang mit dem verwerflichen Börsen- und Gründungsschwindel gebracht, und man läßt die Vermuthung durchblicken, Lasker habe in dieser Schwindelzeit wohl nur ‚reine Hand‘ gehalten, weil ihm ein Portefeuille erstrebenswerther erschienen, als bloßer Geldbesitz. Allerdings gestattet der Verfasser seinen Lesern einige Zweifel darüber, ob diese so genaue Kenntniß der innersten Triebfedern Lasker’s sein eigenes Verdienst ist, oder noch dem Gedankengange des eben citirten Löwenfeld angehört, aber um so mehr erregt die zur Sache gänzlich unnöthige Bemerkung den Eindruck eines beweislos und auf gutes Glück in die Welt gespielten Vorwurfs, gleichviel ob ihre Autorschaft auf Herrn Löwenfeld oder Herrn Glagau zurückzuführen ist. Es wäre der Mühe werth, wenn Sie bei der sonst doch so besonnenen, inhumanen Gehässigkeiten niemals ihre Spalten öffnenden Redaction der ‚Gartenlaube‘ einmal anfragten: ob ihr der volle Sinn jener kleinen, scheinbar nebensächlich hingeworfenen und doch unstreitig argen Schlußpointe nicht im Drange der Geschäfte vielleicht entgangen ist? Was hier einem notorisch so reinen Charakter wie Lasker begegnet ist, das kann im nächsten Augenblicke jedem anderen ehrlichen Manne begegnen. Findet ein Uebelwollen nichts an ihm, was Stoff zu einem Angriffe auf seine Ehre giebt, so schreibt man nur in die Welt: er würde unehrlich sein, wenn ihm die Ehrlichkeit nicht größeren Vortheil brächte. Das kann doch nicht erlaubt sein.“

Da mehrfach schon ähnliche Anfragen an uns ergangen sind, so ergreifen wir gern die Gelegenheit ausdrücklich zu bemerken, daß wir bei dem Zusammenhange des betreffenden Satzes mit den vorhergehenden Löwenfeld’schen Auslassungen leider nicht sofort herausgefühlt haben, daß dieser Passus in Nr. 44 einer Auffassung begegnen könne, wie sie in dem obigen Briefe sich ausspricht. Was unsere Ansicht über den Charakter des Abgeordneten Lasker betrifft, so sind wir mit dem Briefschreiber vollständig einverstanden und verweisen außerdem auf die in Nr. 8 und 34 dieses Blattes (1873) abgedruckten Charakteristiken des Vielgenannten, die deutlich genug für unsere Anschauungen sprechen.


Marlitt’sZweite Frau“ ist nunmehr auch in einer englischen Uebersetzung erschienen, nachdem französische, holländische und russische Uebertragungen bereits im Laufe des vorigen Jahres auf den literarischen Markt kamen. Die Londoner Verlagsfirma Rich. Bentley and Son hat den Roman als Prachtausgabe in drei Bänden zur Erscheinung gebracht und von Sachverständigen wird die Uebersetzung von Anna Wood – im Gegensatz zu der französischen Verballhornisirung der Mdme. Raymond – als eine sehr correcte und elegante gerühmt. – Bei dieser Gelegenheit wollen wir auf die vielfach an uns gerichteten Anfragen den Lesern unseres Blattes zugleich mittheilen, daß die neue Erzählung von

nunmehr ganz bestimmt mit der ersten Nummer des neuen Jahrganges beginnen wird.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_812.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)