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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Literaturbriefe an eine Dame.
von Rudolf Gottschall.

Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie auf Ihrem einsamen Schlosse am Meere auch davon Kenntniß nehmen, was sich auf der wandelbaren Welt der deutschen Bühne abspielt. Die Jahre kommen hier auch und gehen und gleichen sich nicht; bis an das Ufer des Stillen Oceans, wo er in der Goldgräberstadt San Francisco die wunderbare Mär von Siegfried und Chriemhild, ausgestattet mit alterthümlichen Buchstabenreimen und in den Hebungsversen, die auf ungezählten Füßen laufen, immer neue Erscheinungen tauchen auf und lösen sich ab; was da bleibend und vergänglich ist, kann erst die Zukunft entscheiden. Kaum hat Roderich Benedix die Augen geschlossen, als sich auch schon ein wetteifernder Nachwuchs in die von ihm verlassenen Bahnen drängt. Auch die Länder am Baltischen Gestade, Ihr Heimathland, verehrte Freundin, haben der deutschen Bühne einen Lustspieldichter gesendet, der sich manches schönen Erfolges rühmen darf. Der Name Ernst Wichert wird wohl auch schon in die stillen Hallen Ihres Schlosses gedrungen sein.

Ernst Wichert.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Ostpreußen ist in geistiger Hinsicht keineswegs ein unfruchtbares Land; irgend ein Name von Ruf knüpft sich an viele seiner kleinsten Städte. In Insterburg, im Lande der Lithauer, erblickte Wilhelm Jordan das Licht der Welt, der Nibelungensänger, der mit dem eroberten dichterischen Hort über die Meere zog, viel weiter, als je ein Held der alten Sage, und verkündete. In der mastenreichen Pregelstadt wurde der große Denker Kant geboren; in Mohrungen der phantasievoll bewegliche Herder ; in Neidenburg aber begab sich etwas Wunderbares: nicht nur ein deutscher Dichter darf das alte Ordensstädtchen seinen Heimathsort nennen, auch einer der größten Industriellen der Neuzeit ist hier geboren, in der industrieärmsten Provinz des preußischen Staates. Die russischen Reisebilder eines Strousberg dürften nicht weniger interessant sein, als die italienischen Reisebilder eines Gregorovius, wenn erstere jemals die Presse verlassen sollten.

Insterburg, die Vaterstadt Jordan’s, ist auch diejenige Ernst Wichert’s; er ist dort am 11. März 1831 geboren. Später hielt er sich in Königsberg und in der Seestadt Pillau auf. Ein Juristenkind, widmete er sich der Wissenschaft seines Vaters und studirte von 1850 bis 1853 in Königsberg die Rechte, nachdem er anfangs sich dem Studium der Geschichte mit Eifer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_817.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)