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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

sogenannten Weltgeschichte, zur Durch- und Ausfechtung des grimm- und wuthvollsten Kampfes, des Klassenkampfes.

Und der vernünftige Kern dieser entsetzlichen Frucht? Lassen wir, was man Vernunft zu nennen übereingekommen ist, beiseite. Der aus allen Phrasenhüllen herausgeschälte menschliche Kern der socialen Frage und demnach auch die Moral der socialen Revolution ist und wird sein: Steh’ du auf vom Tische des Lebens, damit ich niedersitzen und schmausen kann!

Wer sehende Augen hat und sie aufthun will, wird diesen Kern durch alle die Redensarten und Handlungen, Narrheiten und Ruchlosigkeiten der Pariser Commune von 1871 hindurch deutlich erkennen. Diese Commune war das lehrreiche Vorspiel zu der „in Vorbereitung befindlichen“ Kolossaltragödie der socialen Revolution.

„Schwarzseherei!“ brummt ihr. „Wir kennen ja die langweilige pessimistische Tonart.“

Ihr leugnet also das sociale Problem?

„Nicht doch! Aber erstens ist die Gefahr weder so groß noch so nahe, wie die Schwarzseherei uns glauben machen möchte, und zweitens kann der fernher drohende Sturm unschwer beschworen werden mittels Reformen, welche der Kathedersocialismus in Verbindung mit den Regierungen schon besorgen wird.“

Wirklich? Haben im vorigen Jahrhundert die politischen Reformen die politische Revolution verhindert? Was haben alle die ehrlich gemeinten reformistischen Wollungen und Vollbringungen der „erleuchteten“ Despoten und ihrer „aufgeklärten“ Minister gefruchtet? Nur soviel, daß sie den Ausbruch der Revolution beschleunigten. Heutzutage ist die Lawine der socialen Umwälzung im raschen Rollen. Reformen werden nur Staub auf ihrer Bahn sein. Das Riesentrauerspiel wird in Scene gehen auf der Weltgeschichtebühne.

Ihr wendet euch ab von dieser düstern Weissagung, ungläubig, unwillig, spottlachend sogar?

O, ihr habt recht! Denn Thorheit ist es, Tauben die Wahrheit zu sagen oder Blinde sehen machen zu wollen. Ueberall und alle Zeit haben die Menschen unangenehme Warnungen in den Wind geschlagen. Als in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts[WS 1] mit der traurigen Gabe der Zukunftschau ausgestattete Männer wie Voltaire und Rousseau das Kommen der Revolution vorhersahen, da hat ihnen die Gedankenlosigkeit, welche nicht über die eigene Nasenspitze hinaussieht, auch ins Gesicht gelacht, als Schwarzsehern, Hypochondern und Grillenfängern. Später freilich ist dann den Spottlachern das Lachen vergangen, gründlich.

Auch denen von heute wird es eines wüsten Tages vergehen, gründlichst. Denn die Logik der Geschichte will ihr Recht, und die Geschicke müssen sich erfüllen.




Dichtermütter.
Von J. Loewenberg.
(Schluß.)


Die Mutter Heinrich Heine’s, des ungezogenen Lieblings der Grazien, Betty van Geldern, muß eine Frau von ausgezeichneten Eigenschaften des Geistes und Herzens gewesen sein. Ihr Einfluß auf die Herzens- und Geistesbildung ihres ältesten Sohnes Harry, wie er als Kind genannt wurde, muß nach Allem, was von ihr berichtet wird, sehr bedeutend gewesen sein. Sie nährte ihre vier Kinder selbst und gab ihnen auch den ersten Lese- und Schreibunterricht. Heine gedenkt noch „der braunen Thür, worauf Mutter mich die Buchstaben mit Kreide schreiben lehrte, – ach Gott! Madame, wenn ich ein berühmter Schriftsteller werde, so hat das meiner Mutter genug Mühe gekostet.“ – Sie leitete auch den späteren Unterricht und die Lectüre der Kinder. Heine nennt sie eine Schülerin Rousseau’s, und sein Bruder Maximilian erzählt, daß Goethe ihr Lieblingsschriftsteller gewesen sei, und daß sie sich besonders an dessen Elegien erfreut habe.

Bei der guten Erziehung, die sie im elterlichen Hause und im Umgange mit ihren gelehrten Brüdern genossen, läßt sich ohnehin mit Sicherheit annehmen, daß sie einen mehr als gewöhnlichen Grad allgemeiner Bildung besaß und nicht wenig dazu beitrug, schon früh in ihrem begabten Sohne das Interesse für die Meisterwerke der Kunst und Poesie und für eine idealere Lebensauffassung zu wecken.

Es ist bekannt, daß die poetischen Neigungen und die ersten Arbeiten des spätern Dichters lange Zeit keine sonderlich anregende Aufmunterung im elterlichen Hause fanden, welches Frau Betty zu einer Stätte des Goethe-Cultus geweiht hatte, in dem mit großer Vorliebe meist nur von Goethe gelesen und gesprochen wurde. „Wie soll der Junge aufkommen,“ rief einst Papa Heine in verdrießlicher Mißbilligung hierüber aus, „wie soll der Junge aufkommen, wenn man immer und immer nur von Goethe lesen und reden will!“ und schon der Name Goethe war ihm zuwider, so oft er ein Buch mit demselben in die Hand nahm.

Was that Harry?

Er ließ heimlich alle Bücher, die Goethe’s Namen trugen, umbinden, das „Goethe“ säuberlich ausradiren und statt dessen den Namen Schulze hinsetzen. Seine Absicht gelang. Papa Heine las nunmehr die Gedichte von Schulze und mochte beruhigt denken: der ist doch noch ärger als Harry. Aber die milde, wohlunterrichtete Mutter hatte den Schalksstreich des übermüthigen Sohnes sofort erkannt, schlug in Abwesenheit des Vaters eins dieser Bücher auf und sagte, indem sie den Finger auf den hineingeschmuggelten Namen legte: „Mein Sohn, möchtest Du einst nur halb so berühmt werden, wie der Schulze, der diese Gedichte verfaßt hat!“

Mit Eifer las Frau Betty die Schriften deutscher Patrioten und versäumte keine Gelegenheit, ihre herangewachsenen Söhne auf die traurigen politischen Zustände des damaligen Deutschlands aufmerksam zu machen, besonders auf die elende Kleinstaaterei. „Versprecht mir,“ wiederholte sie oft denselben, „versprecht mir, nie in einem kleinen Staate Eure Heimath zu suchen, wählt große Städte in großen Staaten, aber behaltet ein deutsches Herz für das deutsche Volk!“

Und der älteste ihrer Söhne, Heinrich, der Dichter, ging bekanntlich nach Paris, der zweite, Gustav, nach Wien, der dritte, Maximilian, nach Petersburg.

Die innige Liebe, welche die Kinder bis in’s späteste Alter für die Mutter bewahrten, ist ein schönes Zeugniß dafür, daß Frau Betty es verstanden, nicht blos die treue Pflegerin der Kindheit, sondern auch die Theilnehmerin des geistigen Lebens ihrer Kinder zu sein. Heinrich, der Dichter, hat ihr in zahlreichen Liedern und Sonetten, in den „Nachtgedanken“, in dem Wintermärchen „Deutschland“ und an anderen Orten die zärtlichsten Gefühle geweiht. Wir erinnern nur an sein rührend schönes Sonett:

  An meine Mutter.

Ich bin’s gewohnt den Kopf recht hoch zu tragen,
     Mein Sinn ist auch ein Bischen starr und zähe;
     Wenn selbst der König mir in’s Antlitz sähe,
     Ich würde nicht die Augen niederschlagen.

Doch, liebe Mutter, offen will ich’s sagen:
     Wie mächtig auch mein stolzer Muth sich blähe,
     In deiner selig süßen, trauten Nähe
     Ergreift mich oft ein demuthsvolles Zagen.

Ist es dein Geist, der heimlich mich bezwinget,
     Dein hoher Geist, der Alles kühn durchdringet,
     Und blitzend sich zum Himmelslichte schwinget?

Quält mich Erinnerung, daß ich verübet
     So manche That, die dir das Herz betrübet,
     Das schöne Herz, das mich so sehr geliebet?


Auf Zacharias Werner’s Charakter und literarische Entwickelung übte die Mutter einen unverkennbar unheimlichen Einfluß. „Schon mit dem ersten Hauche,“ sagt Laube in seiner Literaturgeschichte, „scheint er von ihr die Anlage zu allem Ungestüm,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jahrhunderes
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 836. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_836.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2021)