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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

und zwei wissenschaftlich gebildeten Aerzten, ferner eine Schule mit Pensionat von zweiundzwanzig Zöglingen und dreißig sonstigen Schülern, an welcher acht Lehrer und Lehrerinnen thätig sind. Der Unterricht umfaßt alte und neue Sprachen, Geschichte und Geographie, Mathematik und Naturwissenschaft. In der dritten Gemeinde, Sarona, leben achtzig Menschen. Sie unterhalten eine Schule für ihre Kinder.

In Haifa, am Berge Carmel, haben sich zweiundsechszig Familien mit dreihundertundzwanzig Seelen angesiedelt, Wein- und Ackerbauer, aber auch Gewerbetreibende; eine Mühle, eine Oel- und Seifenfabrik befindet sich daselbst, ebenso eine Schule für Europäer und Eingeborene, in welcher neuere Sprachen, Geschichte, Geographie, Mathematik gelehrt werden. Als ein kleiner, aber sichlich aufblühender Staat mitten unter dem Islam wird er in völlig republikanischer Art verwaltet. Jede der Colonien wählt ihre bestimmte Anzahl Abgeordnete, zusammen achtzehn, die alljährlich wenigstens einmal als „Tempelrath“ zusammen kommen und die gesetzgebende Kammer der Gemeinschaft bilden. Jede Gemeinde wählt sich ihren eigenen Gemeinderath mit einem Gemeindevorsteher, der das Bürgerrecht an die Einzelnen ertheilt, es ihnen aber auch entziehen kann und der für Schule, Waisen und Ortsangelegenheiten zu sorgen hat. Der auf unbestimmte Zeit gewählte Vorsteher des Tempels übt die Executive, die höhere Verwaltung, das besondere Gericht mit den Gemeindevorstehern zusammen; er ernennt die Aeltesten, die das Priesteramt versehen; er leitet die Missionen, die öffentlichen Anstalten und die amtliche Correspondenz. Da der Tempel in Palästina den Höhepunkt der Entwickelung der Secte darstellt, so ist der dortige Vorsteher auch zugleich der Oberleiter für alle Württembergischen und sonstigen Gemeinden, welche indessen, mit ihrer besondern Leitung die gleiche Stellung zum Vorsteher einnehmen, wie der für Palästina eingesetzte Tempelrath. Nach wie vor wird die Hauptmasse der Gesellschaft in Württemberg als auf der Vorstufe zum wirklichen Tempel stehend betrachtet, und zur Übersiedelung nach Palästina bedarf es besonderer Erlaubniß- und Legitimationskarten Seitens des leitenden Ausschusses.

Diese speciellen Angaben entnehmen wir einem kürzlich erschienenen neuen Buche von Christof Hoffmann: „Occident und Orient“ (Stuttgart), in welchem der reichbegabte, scharfsinnige Schwärmer die Bekenntnisse seines Glaubens bis zu kulturgeschichtlichen Betrachtungen über die religiösen, politischen und socialen Zustände Europas und des Orients erweitert. Der rüstige Greis war im letzten Sommer selbst auf Besuch nach Württemberg zurückgekommen, um für die Sache seines Lebens neue Hebel anzusetzen. – Es mögen zur Ergänzung der äußeren Geschichte dieser friedlichen Kreuzfahrer unserer Zeit noch einige Mittheilungen über ihren geistigen Standpunkt hinzugefügt werden, von dem aus sie nach den Lehren ihres Oberpriesters Menschen, Welt und Dinge ansehen.

Ihr Glaube richtet sich auf einen vollkommeneren Zustand des menschlichen Geschlechts, als der jetzige ist, und sie wollen nach ihren Kräften beitragen, ihn herbeizuführen. Sie schöpfen diesen Glauben aus den biblischen Weissagungen und dem Evangelium, wenn sie auch keineswegs wissenschaftliche Zweifel an der Echtheit einzelner biblischer Bücher und an der geschichtlichen Wahrheit der im Evangelium berichteten Thatsachen abweisen. Das Gesetz Mosis ist eine unzweifelhafte Thatsache; es bietet ihnen für alle Zeiten, einige nicht buchstäblich zu nehmende Satzungen abgerechnet, gültige Grundzüge der individuellen und socialen Lebensordnung. Deshalb richten sie die ihrige streng darnach ein, ohne freien Ueberzeugungen sonst Zwang anzuthun, und deshalb verwerfen sie auch diejenigen socialistischen Meinungen, die mit dieser mosaischen Achtung vor dem Schutz der Person, der Ehe und Familie, des Eigenthumsrechts und der Ehre in Widerspruch stehen. In solcher Auffassung der Stellung der Religion zu Leben und Wissenschaft erziehen sie ihre Kinder. Ihr Priesterthum bilden die Beamten und Aeltesten der Gemeinde, die dafür keine besondere Stellung in Anspruch nehmen dürfen; dazu gehören auch die Lehrer, Aerzte und Alle, welche mit der „Idee des Reiches Gottes“ ausgerüstet sind. Nur in sonntäglichen Gemeindeversammlungen, bei denen einer der Aeltesten den Vorsitz führt, besteht ihr Cultus, sonst tritt ein Priesterdienst nur in solchen Fällen ein, wo in feierlicher Weise ein Wort im Namen der Gemeinde zu sprechen ist, nämlich wo für Vermählungen oder für neugeborene Kinder der Segen der Gemeinde begehrt wird, oder auch am Grabe Verstorbener. Sacramente kennt der Tempel nicht, wenigstens nicht im kirchlichen Sinne, wie denn der Gottesdienst auf’s Einfachste beschränkt ist. Die Lebens- und Denkweise jedes Einzelnen soll ja ein steter Gottesdienst sein, damit sich auch jene Schilderungen der Propheten erfüllen, die den allgemeinen Völkerfrieden, die geistige Ausbildung Aller und gesicherten Nahrungszustand für Jeden verheißen. Eine solche Zukunft des Glücks für ihre Gemeinde erwarten sie mit Bestimmtheit, in der dann auch Alles aufhören soll, was der Gesundheit schadet und das Leben verkümmert und verkürzt. Denn die heilige Schrift lehre, daß das Glück in dieser und die Seligkeit in der zukünftigen Welt nicht mit einem Sprung und nicht durch Einbildungen erreicht, sondern daß einst wieder ein Uebergang des irdischen Daseins in das ewige Leben erfolgen wird, womit dem Tod seine Macht genommen werden soll.

Ueberall, an jedem Ort der Erde sei es zwar ausführbar, daß der neue Tempel des Volks Gottes errichtet werde, womit der Anfang der menschlichen Wiedergeburt erfolge; auch sei jedes Volk dazu berufen und die Mission daher keine beschränkt nationale Sache, aber immer sei Jerusalem der vor Allem verheißene Ort, wo er erstehen werde, wenn die Zeiten der Heiden erfüllt seien. Als ein Bethaus aller Völker stelle sich also der Tempel dar, wie ihn jetzt die Gesellschaft in Palästina zu errichten begonnen. Nach der Offenbarung Johannis werden drei Epochen in der Zukunft dieses Tempels zu Jerusalem unterschieden: sein Aufbau inmitten einer feindlichen Völkerwelt, dann seine Bedeutung als Mittelpunkt aller gebildeten Völker während des sogenannten tausendjährigen Reiches, endlich das himmlische Jerusalem für die ganze erneuerte Erde. Die erste Epoche habe nun mit der Gründung der Gesellschaft des Neuen Tempels und ihrer Cultur-Colonien in Palästina ihren Anfang genommen. Ueberall in der Welt werden die Zeichen des Verfalls immer sichtbarer; von Europa wie Amerika sei nichts für die wirkliche Rettung der Menschheit zu hoffen – der Orient gehe seiner Auflösung entgegen. Wohl sei die liberale Idee verjüngend in die verrotteten Verhältnisse gedrungen, doch fehle ihr die nachhaltige Kraft der echten christlichen Religiosität. In der kleinen Gemeinde, die vom Neckar ausgegangen, die im gelobten Lande ihren Staat begonnen, werde das Wahre in den liberalen Ideen erkannt und ihnen die Weihe der Religion mitgetheilt. In diesem Glauben betrachtet sich Hoffmann als den Stifter des Tempels für die einst neu sich erhebende Christenheit, der die Bibel die Wiedereröffnung des Paradieses verheißt; mit geringen Mitteln hat er sein Werk unternommen und er hofft, daß es ausgeführt werde und die Welt an demselben erkennen solle, wie der Glaube Wunder zu wirken vermag.





Die Berliner Blitzmädel.

Wenn man gegen ein Uhr Mittags zufällig durch die Französische Straße in Berlin geht, so wird man durch die große Menge junger Damen überrascht, welche in ein düsteres Eckhaus an der Wallstraße treten. Die Meisten derselben richten unwillkürlich ihre Blicke auf die große, über dem Eingange befindliche Uhr, und je näher der Zeiger auf die angegebene Stunde rückt, desto rascher fliegen die kleinen Füße die Treppe hinauf, bis die Letzten verschwunden sind. Beinahe gleichzeitig sieht man eine ebenso große Anzahl fast ohne Ausnahme sauber gekleideter, den besseren Ständen angehöriger Mädchen das bezeichnete Haus verlassen und mit den sie ablösenden Colleginnen einen freundlichen Gruß wechseln. Sie Alle scheinen fröhlich und zufrieden, und auf ihren oft recht hübschen und frischen Gesichtern glaubt man ein gewisses, nicht unangenehmes Selbstbewußtsein zu bemerken. Gewöhnlich standen noch vor einem Jahre in der Nähe der genannten Ecke um dieselbe Zeit verschiedene Herren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 874. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_874.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)