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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Am Lethestrom.
Erinnerungen von Karl Gutzkow.


1.

Ein wunderholder Maitag in den fünfziger Jahren war’s. Tiefblau spannte sich der Himmel wie mit nie von ihm versagter Huld über die blüthengesegneten Ufer der Elbe. Es war die Zeit, wo in einem gewissen Orte, zu Leipzig im Sachsenlande, der Sturm nur allzugewaltig in Blüthenhoffnungen Jahr ein Jahr aus einzubrechen pflegt, während dagegen andere kräftig aufgehen und allerdings wohlschmeckende Früchte bringen: Die Buchhändler zogen zur Leipziger Messe. Aber viele vergaßen manche trübe Erwartung, die ihrer am Abrechnungstische harrte, und Einer der Trefflichsten, die je einen Autor mit den Worten: „Ich bin gern bereit –“ beglückt haben, der frühgeschiedene Eduard Trewendt von Breslau, besuchte mich, froher Erwartung voll, mit dem mir schon aus früheren Zeiten bekannten Jugendschriftsteller Franz Hoffmann. Sie luden mich zu einem Abendimbiß, vielleicht auf der Brühl’schen Terrasse oder im Hôtel, ein. Die Bestimmung des Ortes wurde noch offen gelassen. Gustav Nieritz würde der Vierte im Bunde sein.

Die Schiller-Statue in Marbach,
modellirt von Rau, ausgeführt von Dollinger.

Den allbeliebten Jugendfreund, dessen Wirkungen ich selbst als Familienhaupt täglich erproben konnte, wenn mich gute Laune nach Hause kommen ließ mit einigen im Buchladen mitgenommenen Bändchen „Nieritz’scher Erzählungen“ (die sofortige Lectüre unterdrückte fast den Ausdruck des vollen Jubels) – diesen Zauberer von Seligkeiten der Unterhaltung, ich hatte ihn persönlich noch nicht gesehen. Und wir wohnten doch in einer und derselben Stadt! Aber die Dresdener Elbbrücke ist das, was nach den Franzosen der Rhein sein soll, eine Scheidewand zwischen Nord und Süd wie der Rhein zwischen West und Ost. Der freundliche Schlenderweg, von dem aus man sich in die schönsten Fernsichten verlieren kann, auf die stumpfen Basaltkegel der sächsischen Schweiz hier, auf die freundlichen Meißner Weinberge dort, ist diese Brücke nicht immer. Viel öfter noch schrecken Sturm und Regen ab, sie zu betreten. Und wer möchte auch einen Schulmann aus seinem stillen Gärtneramte abrufen, ihn stören, wenn er gerade das aufgeschlagene Lesebuch, seinen Spaten, in der Hand hält und mitten im Verlesen des geistigen Unkrauts auf seinen Beeten begriffen ist! Sonntags fesselt dann den Verwalter einer kleinen Schule in der Dresdener Neustadt seine Muse oder sie lockt ihn hinaus in eine schöne Gegend, die duftigen Waldgründe am „weißen Hirsch“, auf die von Lerchenwirbeln umschwirrten Höhen, mit denen die Natur Dresdens Umgebung geschmückt hat.

Ein solennes Mahl erwartete uns. Da es Champagner geben sollte, wurde die Scene nicht in die Oeffentlichkeit, sondern in ein Hôtel verlegt. Ein besonderes Zimmer bot da die sicherste Traulichkeit und die Abwesenheit aller Kritik für einen unter dem Disciplinargesetz stehenden Beamten. Nieritz erschien, schon von den Spuren des Alters gezeichnet, von den Zeichen der Mühe seines Schulamts, gefurchten Antlitzes. Aber sein Geist war frisch und rege. Der anwesende süddeutsche Mitarbeiter im gleichen Fache, Franz Hoffmann störte ihn nicht. Sie waren freundschaftlich verbunden. Hoffmann’s Weise war eine andere. Dieser wirkte mehr auf die Einbildungskraft der Kinder, jener auf das Gemüth.

Ein Gespräch zwischen Schriftstellern und einem unternehmungsfreudigen gebildeten Verleger, wie Trewendt war, konnte sich zumeist nur auf die Aeußerlichkeiten des literarischen Wirkens ausdehnen. Zwischen dem köstlichen Lachs, den Hühnern, dem Rehbraten – (die Küche des Monats Mai ist bekanntlich die Sorge aller Speisezettelerfinder; der Mai ist der unergiebigste Proviantmeister der Natur) zwischen Rheinwein und dem unerläßlichen Wein des Victoriaschießens (eben Trewendt hatte ja gute Treffer mit seinen beiden Kinderpoeten gemacht) gab es fast nur die Erörterung der literarischen Chronik des Tages. Nieritz fand mich heimisch in seinen ersten Anfängen. Ich wußte, wie seine kleinen Geschichten erst in der Berliner Kochstraße, im „Gesellschafter“, in der Vereinsbuchhandlung des Professor Gubitz erschienen, wie er jede seiner Geschichten um „ein Ei und ein Butterbrod“, wie man in Hamburg sagt, hingab, bis sich der mir wohlbekannte Professor der Holzschneidekunst, Redacteur, Dichter, Recensent, Buchhändler, ein sächsischer, nach Berlin verpflanzter Landsmann Gustav Nieritz’s, entschloß, für eine zehn Druckbogen füllende Erzählung ein für allemal hundert Thaler zu geben. Erst spätere Anknüpfungen erlösten den wackeren Mann aus diesem Plantagenverhältnisse. – Ab und zu erhob sich denn doch der Thatsachen- und Gedankenaustausch in idealere Regionen. Es galt dann Betrachtungen über die Fassungskraft der Kinder, über den Geschmack der Jugend, der meist so grundverschieden von dem der Alten sei, über die Geheimnisse der Erzählungskunst. Aus diesem Bereiche unserer Gespräche will ich eine Aeußerung des ehrwürdigen Kinderfreundes, der vor Kurzem die Augen geschlossen hat, wie eine in den Strom der Vergessenheit gefallene Blüthe zu retten suchen. Ich will fast wortgetreu wiedergeben, was damals Nieritz über die Wahl seiner Stoffe sagte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_315.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)