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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Aufgeht die Sonne; untersinkt sie wieder;
Sie sieht nur Blut und Tod; sie steigt empor –
Im Kampfe stehen immer neue Glieder.“

Noch hielten die Rothen nicht nur den Osten der Stadt, sondern auch das Centrum unter ihrer Hand. Die Tuilerienterrasse, das Schloß selber, den Louvre, das Palais Royal, die Madeleine, den Vendômeplatz machten sie am 23. Mai den Angreifern noch immer streitig und behaupteten diese Punkte den ganzen Tag hindurch.

Mittels Umgehungen, Häuserdurchbrüchen, Massenwirkungen des schweren Geschützes suchten die Blauen, deren Harste in sicherem Einvernehmen und unter festeinheitlicher Oberleitung handelten, diese Centralstellung ihrer Gegner zu bewältigen, um dann, stromaufwärts dringend, den Herzstoß auf den Aufstand zu führen, d. h. das Hôtel de Ville anzugreifen. Gleichzeitig mit diesen Operationen im Mittelpunkte der Stadt gingen draußen an der Peripherie derselben andere vor sich, welche die Absicht hatten und erreichten, die drei Südforts Montrouge, Bicêtre und Ivry den Rothen zu entreißen. Die von dem Generalstabsofficier Leperche geschickt geleiteten, von den Obersten Deloffre und Desgarets tüchtig geführten, durch die Reiterei des Generals Du Barail kräftig unterstützten Angriffe auf die genannten Citadellen hatten zur Folge, daß die Vertheidiger es gerathen fanden, die Werke aufzugeben und in mehr oder weniger eiligem Rückzug ihr Heil zu suchen. Jedoch erst, nachdem sie bis zum 25. Mai ausgehalten hatten.

Sie hielten überhaupt überall aus, so lange auszuhalten war. Die Kämpfer der Kommune der Feigheit zu bezichtigen, ist nicht allein ungerecht, sondern heißt auch die Thatsachen nicht sehen wollen und ist demnach ganz albern. Der gerechte Urtheiler muß es ja geradezu staunenswerth nennen, daß die Rothen der ganzen Ueberlegenheit militärischer Technik und Disciplin gegenüber den Kampf so lange zu führen vermochten, sie, die ohne einheitliches Kommando und darauf angewiesen waren, alles, was ihre Gegner vor ihnen voraushatten, mittels ihrer Anstelligkeit und Todesverachtung einigermaßen auszugleichen.

Aber, wohlverstanden, ich spreche von den wirklichen Kämpfern der Kommune, nicht von dem schandbaren Gesindel, welches die Waffen nur trug, um damit wehrlose Opfer hinzuschlachten, zum Abscheu der Mit- und Nachwelt.

Solches Gesindel, Auswurf der Riesenkloake Paris, durch alle Latrinen der Gaunerei gekrochene Hallunken, auf allen Schmutzwegen der Ausschweifung bewanderte Dirnen, sah man schon am 23., zahlreicher noch am 24. Mai in den Straßen zwischen dem Bastilleplatz und dem Père Lachaise lungern und lauern, Aasvögeln gleich, welche Leichen wittern. Sie umkreis’ten die Mauern des Gefängnisses La Roquette und krächzten grässliche Drohungen zu den vergitterten Fenstern empor, hinter welchen die „Geiseln“ gefangen saßen.

Aber nicht diese Elenden hätten das rothe Gespenst vom September von 1792 wieder heraufzubeschwören vermocht. Von amtswegen wurde es heraufbeschworen. Die Kommune hatte den Beschluß gefaßt, die sämmtlichen Geiseln sollten umgebracht werden.

Ort, Tag und Stunde dieses Beschlusses, sowie die Namen der Mitglieder, welche dabei mitgewirkt, genau zu ermitteln, ist bislang nicht gelungen. Fest aber steht, daß das Exekutivkomité am Mittwoch den 24. Mai diesen Befehl erließ: „Der Bürger Rigault in Gemeinschaft mit dem Bürger Regère wird mit der Ausführung des Dekrets der Kommune in Betreff der Geiseln beauftragt.“ Unterzeichnet: Delescluze. Billioray.

Die Vertheidiger der Kommune sagen, dieses Blutdekret sei nur erlassen worden zur gerechten Wiedervergeltung der Gräuel, welche die „Insurgentenjagd“ verübte, die von den Blauen in den von ihnen eroberten Stadtvierteln erbarmungslos angestellt wurde. Das mag so sein und kein gerechter Mann wird anstehen, die Gräuel dieser Menschenjagd zu brandmarken. Allein immerhin besteht ein Unterschied zwischen diesen Barbareien, welche eine kampftoll gewordene Soldateska auf von dem Blute ihrer Kameraden dampfenden Walstätten gegen mit den Waffen in der Hand ergriffene oder ihr als solche bezeichnete Kommunarden verübte, und der kaltblütig angeordneten und kanibalisch-roh ausgeführten Abschlachtung von armen Gefangenen, welche an dem Mordkampfe gar nicht theilgenommen hatten. Nicht die Leidenschaft, nein, die kühlberechnende Grausamkeit hat das Signal zu den ruchlosen Massenmorden gegeben, wie sie am 24. Mai begannen. Das ist das glühendste Brandmal, welches die Kommune sich aufgedrückt hat.

Der Bürger Rigault zauderte nicht, zu thun, was ihm eine Lust. Dieser Mensch war einer von jenen in unserer Zeit nicht eben seltenen Kalkulatoren, welche die materialistische Lehre des Jahrhunderts als einen Panzer tragen, an welchem alles abprallt, was Gefühl, Menschlichkeit, Ehre, Wahrheit und Gerechtigkeit heißt. Solchen Strolchen ist das Laster eine Eleganz und der Frevel ein Zeitvertreib. Sie kennen und anerkennen nichts als ihr eigenes kleines, hohles, eitles, vom Größenwahn aufgeblähtes Ich, und die Selbstsucht, keck, frech, schamlos bis zur Hündischkeit, ist das Idol, vor welchem sie auf dem Bauche liegen.

Der Mordbefehl des Exekutivkomité war kaum in Rigaults Händen, als er nach Sainte Pelagie eilte, wo der von ihm gehaßte Republikaner Chaudey eingekerkert war. Der Prokurator der Kommune zeigte dem Gefängnißdirektor Ranvier an, daß die Stunde der „Hinrichtung“ der Geiseln geschlagen habe und daß Chaudey „den Tanz beginnen werde“. Selbstverständlich hatte die Kommune bei Zeiten dafür gesorgt, das Verwaltungs- und Aufsichtspersonal in den Gefängnissen aus „Bürgern“ zusammenzusetzen, auf die sie sich verlassen konnte. Ihre Gefängnißdirektoren waren jedenfalls Leute, die als im Gefängnißleben erfahren bezeichnet werden mußten. So dirigirte z. B. in La Roquette ein gewisser François – in einigen Zeugenaussagen heißt er auch Lefrançais –, welchem die Züchtlingsjacke, die er früher getragen, noch jetzt ganz gut auf Leib und Seele gepaßt hätte.

Der arme Chaudey wurde in die Schreibstube des Gefängnisses heruntergebracht, wo ihn der Bürger Prokurator also begrüßte: „Bürger, ich bin beauftragt, die Hinrichtungen in den Gefängnissen zur Ausführung zu bringen. Sie kommen heute daran, sofort – binnen einer Stunde werden Sie erschossen sein.“ Chaudey ward durch diese brutale Eröffnung begreiflicher Weise verblüfft, faßte sich aber rasch und sagte: „Aber, Raoul Rigault, haben Sie denn auch bedacht, was Sie thun wollen?“ – „Allerdings. Ich vollziehe einen Beschluß der Kommune. Das ist alles.“ – „Aber Sie wissen doch, ich bin ein guter Republikaner. Sie schädigen eine heilige Sache. Sie bringen die Republik um.“ – „Gleichviel. Sie sterben wie alle die übrigen Geiseln.“ – „Aber, Bürger Rigault –“ „Genug, meine Zeit ist knapp. Wollen Sie etwa einen Beichtvater?“ – „Scherzen wir nicht! Sie wissen recht gut, daß ich keinen Beichtvater will.“ – „Sie sind ein Mörder. Sie haben es verschuldet, daß Blanqui umgebracht wurde.“ – „Aber Blanqui lebt ja; ich kann es beweisen. Vielleicht vermag ich sogar seine Austauschung zu bewirken.“ – „Aha, Sie stehen also mit Versailles in Verbindung? Wohlan, Sie und alle die andern Geiseln sterben.“ – „Gut, ich werde Ihnen zeigen, daß und wie ein Republikaner zu sterben weiß.“

Der Wackere zeigte es. In den Rundgang des Gefängnisses geführt, wo das Mordpeloton seiner harrte, wurde er der Kapelle zur Seite in einen Mauerwinkel gestellt. Der Bürger Prokurator gönnte sich das Vergnügen, mit gezogenem Degen den Mordakt zu kommandiren. Schlecht getroffen stürzte Chaudey zu Boden und hatte noch die Kraft, zu rufen: „Vive la république!“ Da wirft sich mit den Worten: „Ich will Dir die Republik schon aus dem Schädel treiben,“ der Brigadier Gentil, ein Haupthandlanger Rigaults, auf den Verwundeten und jagt demselben eine Revolverkugel „durch den Rachen“, wie er sich später lachend rühmte. Die Ausplünderung des Todten durch die Mörder gehörte mit zum Ganzen. Neben Chaudey’s Leichnam wurden etliche Minuten darauf noch die von drei gefangenen Gensdarmen hingeworfen, auf welche man, den Gräuel zu würzen, in dem Rundgange wie auf Jagdthiere unter Zoten, Flüchen und Gelächter geschossen hatte. Nach also vollzogenem Menschenopfer brach der Bürger Rigault nach dem Gefängnisse La Santé auf, „um sein Geschäft fortzusetzen“  …

Die Muse der Geschichte hat die traurige Verpflichtung, vor nichts zurückschaudern zu dürfen und alles sagen zu müssen. Aber sie hat auch das Recht, mit beschwingten Sohlen über

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_333.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)