Seite:Die Gartenlaube (1877) 010.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

näher, welches seine Genialität ihr gesetzt. Seit Kaiser Heinrich der Dritte im Oktober von 1056 eines so beklagenswerth-vorzeitigen Todes gestorben war und seinen Sohn und Nachfolger, König Heinrich den Vierten, als unmündigen Knaben hinterlassen hatte, rückte Hildebrand dieses sein Ziel mehr und mehr in die Tageshelle. Der große Kaiser war todt; jetzt war Platz für den größeren Papst. Doch begnügte sich der päpstliche Minister noch mit dem Wesen der Macht und gönnte anderen, dem zweiten Nikolaus und dem zweiten Alexander, den Schein und Namen. Während dieser beiden Pontifikate that er schon manches Entschiedene, um die Tiara von der Kaiserkrone zu befreien und die Umkehrung des bisherigen Verhältnisses der „beiden Schwerter“ anzubahnen. So dieses, daß er die Wahl der Päpste auf das Kollegium der Kardinäle übertragen ließ, wobei vom kaiserlichen Rechte der Bestätigung oder Verwerfung schon nur noch nebenbei die Rede war. Die praktische Schlußfolgerung aus dieser Prämisse zog Hildebrand, indem er die Wahl Alexanders des Zweiten ohne alle Rücksicht auf den deutschen Kaiserhof machte. Nach dem Ableben dieser seiner päpstlichen Marionette, hielt der Minister dafür, daß jetzt die Zeit gekommen wäre, wo er auch formell werden müßte, was er sachlich schon lange gewesen. Am 29. Juni von 1073 ist er demzufolge unter dem Namen Gregors des Siebenten in der Peterskirche als Papst geweiht und aufgethront worden.



Was wollte Gregor?
Daß die Erde ein Gottesstaat sei.
Wer sollte denselben regieren?
Der Statthalter Gottes auf Erden, der Papst.

Die alte kirchliche Vorstellung von dem einen Hirten und der einen Heerde erfuhr eine zeitgemäße Umbildung. Das Princip des Lehnstaates wurde auf das Verhältniß von Kirche und Staat, von Papst und Kaiser angewandt: – Gott, der Oberlehnsherr der Welt, hat den „heiligen Vater“ mit dem Erdkreis belehnt. Kraft der ihm also übertragenen göttlichen Machtvollkommenheit theilt der Papst Länder und Reiche als Lehen aus und zieht auch die verwirkten wieder ein. Der Kaiser ist demzufolge nur der erste Vasall des Papstes, die kaiserliche Oberlehnsherrlichkeit über die Christenheit nur ein Ausfluß der päpstlichen, ein „Beneficium“, das verdient werden muß und verwirkt werden kann, eine Gnade, die nach Gefallen erwiesen oder verweigert wird. Der Papst ist also von rechtswegen der Oberherr aller weltlichen Machthaber. Er steht ebenso hoch über dem Kaiser und über den Königen, wie der Gott über den Menschen, der Himmel über der Erde, die Kirche als göttliche Einsetzung über dem Staate als menschlicher Einrichtung steht.

Die Menschen des 11. Jahrhunderts glaubten, mit verschwindend wenigen Ausnahmen, an diesen Schwindelkoloß von Papstprämisse und folglich nahmen sie auch die Konsequenzen derselben an.

Gregor selber glaubte zweifellos an seine Aufstellungen. Er war von seinem Rechte, die Weltherrschaft ansprechen zu dürfen, zu müssen, vollständig überzeugt. Nichts könnte irriger sein, als zu wähnen, dieser Mann habe aus Gründen kleinlicher Selbstsucht gehandelt. Ordinäre pfäffische Herrschgelüste lagen weit unter ihm. Er wollte die Erde zu einem Gottesstaate machen; er wähnte, es zu können. Ein Revolutionär vom radikalsten und kühnsten Schlage, hat dieser Mönch, in den Formen seiner Zeit und indem er sich als oberster Feudalherr proklamirte, dem Feudalsystem den Krieg gemacht und wenigstens instinktiv eine sociale Umwälzung angestrebt, basirt auf die Vorstellung von einer absoluten Gleichheit der Menschen vor Gott, beziehungsweise vor dem Vicegott, dem Papste. Gregor war ein glühender Idealist, ein begeisterter Optimist. Er glaubte an das Märchen von der Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen; er glaubte an die Möglichkeit einer Harmonie auf Erden, an die Möglichkeit eines selbstlosen Hirten und einer friedsamen Heerde von wohlgepflegten und wohlgehüteten Lämmern. Und doch brauchte er nur die Augen aufzuthun, um wahrzunehmen, daß die Menschen weit mehr ins Fach der Wölfischkeit als in das der Lämmerlichkeit schlügen. Der Grundirrthum des großen Papstes war genau der, von welchem unsere modernen Socialisten und Kommunisten – die ehrlichen nämlich – sich narren lassen, also das Phantasiegebilde von der Menschen- und Völkerbruderschaft. Als ob die Menschen und die Völker von Haus aus Brüder und nicht vielmehr Feinde oder, milder ausgedrückt, Konkurrenten im Geschäfte des Daseins wären! Als solche läßt die biblische Ursprungssage bedeutungsvoll schon die zwei ersten Brüder auftreten und richtig den einen durch den andern echtkonkurrentisch todtschlagen. Diese Konkurrenz zu verklagen oder gar zu verleugnen, ist ganz thöricht. Sie ist ja Schicksalsschluß. Ohne sie müßte das Geschäft des Daseins bald flau und faul werden, müßte geradezu verlottern und verlumpen, versimpeln und versiechen.

Abgesehen von der Widernatürlichkeit und folglich Unmöglichkeit des Systems, welches Gregor verwirklichen wollte, muß man ihm zugestehen, daß er mit ebenso großer Genialität wie Thatkraft an dieser Verwirklichung arbeitete. Er übersah nicht sein Jahrhundert, aber er wußte es zu fassen und zu führen. Sein Arbeitsmaterial war der Glaube seiner Zeitgenossen. Sein Hauptwerkzeug mußte demnach selbstverständlich die Klerisei sein. Er richtete dieses Werkzeug meisterhaft zu seinen Zwecken her. Er gab der Klerisei die stramme Organisation einer Kaste, deren Interessen mit denen des Staates nichts mehr gemein haben sollten. Die gesammte Geistlichkeit wurde straff-hierarchisch gegliedert und mittels schärfster Disciplin zu einem streitfertigen Heere gemacht, von seinen obersten bis zu seinen untersten Graden jedem Wort und Wink des Papst-Generalissimus unbedingt gehorsam und dienstbereit. Wenigstens war das Gregors hierarchisches Ideal, welches jedoch das Schicksal aller Ideale hatte, d. h. keineswegs vollständig verwirklicht wurde. Namentlich darum nicht, weil es dazumal noch deutsche Bischöfe und Priester gab, welche das Vaterland höher stellten als den Vatikan und dem verfluchenden Papste zum Trotz dem verfluchten Kaiser die Treue hielten.

Als Mittel, das benöthigte wohldisciplinirte und streitbare geistliche Heer zu schaffen, handhabte Gregor, wie jedermann weiß, drei Verbote: das der Simonie, das der Laien-Investitur und das der Priesterehe. Das erste war sittlicher, die beiden andern waren hochpolitischer Natur. Die Aufhebung der Laien-Investitur, d. h. der die staatliche Vasallenschaft der Bischöfe und Aebte feststellenden Belehnung derselben von seiten der Könige mittels Ringes und Stabes, lös’te die Prälaten vom Staate los, die Durchsetzung des Cölibats die Priester von der Familie. Die socialpolitischen Folgen dieser Loslösung ergaben sich von selbst: der Priester stand außerhalb der Gesellschaft; ihre Mühen und Sorgen, ihre Freuden und Leiden waren nicht die seinigen. Was ging ihn fürder die „Welt“ an? Was Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Weib und Kind, was Heimat und Vaterland? Ihm sollte das alles die Kirche ersetzen, sie sollte sein Ein- und Alles sein. Aber in der Wirklichkeit war das doch nur eine tolle Einbildung. Nur in den allerseltensten Ausnahmefällen kann der Mensch über sich selbst hinaus und die verleugnete oder tyrannisirte Natur rächt sich unfehlbar und mit einer gewissen Schadenfreude an ihren Verleugnern und Tyrannen. Man braucht daher über die gräuelhaften Folgen des Priestercölibats kein großes Geschrei zu machen. Sie mußten kommen. Die harmloseste dieser Folgen war, daß an die Stelle der rechtmäßigen Ehe der Priester die wilde trat, der Konkubinat. Keine Frage übrigens, daß es auch Priester gab, welche den Cölibat streng und strikt meinten und nahmen. Mittels mühsäligster Selbstquälerei hielten sich diese Asketen und Zeloten von dem „Quell des Bösen“, von den „Fackeln des Satans“ – das waren in ihren Augen die Frauen – ängstlich fern. Aber es ist doch sehr kennzeichnend, daß einer dieser Fanatiker, ein vorragender Zeit- und Gesinnungsgenosse Hildebrands, der Kardinal Peter Damiani, in seinem Hymnus auf die Freuden des christlichen Paradieses diese Freuden mit ebenso glühenden Farben gemalt hat, wie Mohammed die des islamischen Paradieses im Koran geschildert hatte. Ferner, daß derselbe Peter, obzwar schon ein durch Fasten, Selbstgeißelung und Bußgürtelpein abgemergelter Greis, bekannte, runzelige und triefäugige Weiber vermöchte er wohl ohne Gefahr anzusehen, aber vor jungen und hübschen müßte er Augen und Herz hüten, wie ein gebranntes Kind das Feuer fürchtete. Endlich, daß abermals besagter heiliger Peter bei einer Gelegenheit ganz naiv erzählte, die in rechtmäßiger Ehe lebenden Priester Oberitaliens zeichneten sich durch Bildung, Pflichttreue und sittliche Lebensführung aus, während die im Cölibat lebende Klerisei Mittelitaliens in aller Rohheit und Lasterhaftigkeit förmlich sich wälzte. Die sehr nahe liegende Nutzanwendung dieser von ihm selber berührten Thatsache zu ziehen, fiel aber dem Manne nicht ein.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_010.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)