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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Freiheit, der Republik und der Revolution, herüber gekommen ist und Franz Zehren heißt?“

„Der?“ fragte gedehnt der Andere. „Ich habe ihn im Wiedenhofe nur einmal flüchtig gesehen. Er ist ja aber halb oder ganz taub.“

Der Arzt zwinkerte schlau mit den Augen. „Nun, Commissar, haben Sie noch nie gehört, daß Leute, welche bei der Musterung als taub eingetroffen waren, ein paar Wochen nachher mit dem besten Gehör von der Welt in die Regimenter gesteckt werden?“

„Ah!“ machte der Beamte mit den Zeichen der Ueberraschung.

„Aber reinen Mund! Ich bin die Unschuld selber und bleibe ganz aus dem Spiele. So wahr ich lebe, ich verleugne alles, wenn Sie meinen Namen in's Spiel bringen. Und nun: gut Werk, Commissar!“

Die Beiden schüttelten sich die Hände und der Commissar schritt langsam um die Ecke. Sie waren an eine Stelle der Straße gekommen, wo dieselbe ein Knie bildete. Es mußte eins der besten Viertel sein, in dem sie sich befanden – lauter zweistöckige, elegante, moderne Häuser standen da, in heller Oelfarbe gestrichen, mit Balcons und Stuckverzierungen. Der Doctor ging dreist zu einem der Häuser hinüber. Er horchte und merkte, daß der Andere jenseits der Ecke stehen blieb. „Mißtrauischer Schuft!“ brummte er ärgerlich; „so sei's d'rum!“ Er griff nach einem Klingelzuge und schellte so laut, daß es der Lauscher in der Nebenstraße hören mußte, der in der That jetzt erst, und mit ziemlicher Eile, den Weg fortsetzte.

Der Doctor sah sich prüfend um und bemerkte an einem der Nachbarhäuser eine Treppe, welche zu einem tief liegenden Hauseingange führen mußte. Er schlüpfte leise in den verdeckten Vorraum dieses Einganges. Bald nachher öffnete sich ein Fenster; ein paar ärgerliche Worte wurden hinaus gebrummt, dann schlug es wieder zu. Der unfreiwillige Veranlasser der nächtlichen Störung lachte kurz vor sich hin, aber sein Antlitz war schnell zu einem Ausdrucke von Ernst zurückgekehrt, der bewies, daß sein Intermezzo mit dem Polizeibeamten eine ziemlich bedenkliche Seite hatte. Er sprang kurz darauf flüchtig auf die Platte des Trottoirs und lief mehr als er ging den Weg zurück, den er hergekommen war. Zweimal begegneten ihm Wächter, und er war vorsichtig genug, in ihrer Nähe das Tempo seiner Schritte zu mäßigen, um sich nicht der Gefahr, angehalten zu werden, auszusetzen.

Als er wieder an die Endstrecke der Wallstraße kam, wo der Commissar den Wächter zurückgelassen hatte, schob er sich soweit an den Häusern vor, bis er gewahren konnte, daß dieser noch mit kurzem Schritte bei der alten Stelle auf und nieder patrouillirte. Er schlich dann zurück und wandte sich rechts in die Luisenstraße, eine Quergasse, welche, der Canalstraße parallel laufend, das Häuserquadrat einschließen half, zu welchem der Wiedenhof gehörte. Vor einem schmalen Hause in der Mitte der Straße hielt er an und nickte befriedigt, als er durch die Spalten eines Fensterladens Licht schimmern sah. „Noch ist es Zeit, wie ich glaube,“ murmelte er, „aber die höchste.“ Auf ein dreimaliges Klopfen an den Laden regte es sich drinnen, und die Hausthür wurde geöffnet. In der Thür stand ein alter, grauköpfiger Mann mit gewaltiger Hornbrille vor den Augen, die er möglichst weit auf die Stirn geschoben hatte. Er hielt ein Licht in der Hand.

„Patriot!“ sagte der Doctor leise. „Ist der kleine Rath noch in der Schlucht beisammen, Rottmann?“ fügte er hastig fragend hinzu,

„Sie, Herr Doctor?“ meinte der Alte, nachdem er die hohe Gestalt des Arztes einen Moment mißtrauisch beleuchtet hatte. „Nun, soviel ich weiß, sind sie noch Alle oben.“

„So bleiben Sie hier, und halten Sie die Thür offen! Man wird gleich herunterkommen. Der Teufel ist los, Rottmann, und wir müssen uns salviren. Tragen Sie Ihr Licht nur zu Ihrem Rinaldo Rinaldini, oder was Sie sonst Gutes lesen, hinein und erleuchten Sie nicht die ganze Luisenstraße! Der Hauseingang muß dunkel bleiben.“ Damit stürmte er an dem Alten vorbei über den Hausflur und hinten in den Hof. Letzterer war ein schmaler gepflasterter Platz; man sah geradeaus auf eine mit wildem Weine berankte Wand, welche zu einem dahinter liegenden Gebäude gehörte und völlig fensterlos war. Von Mondbeleuchtung war hier nichts mehr zu spüren, so wenig wie auf der Straße draußen; indeß schritt der Doctor mit vollkommener Sicherheit einer Ecke zu, wo ein Bretterverschlag sich befand, nicht breiter und höher, als zwei Menschen, welche nebeneinander stehen, Raum einnehmen. Diesen Verschlag nahm der Doctor ab, nachdem er zwei Riegel herausgestoßen, und trat in eine dunkle Oeffnung. Tastend glitt seine Hand in dem Raume umher, bis er eine Leiter erfaßt, welche er zu erklettern begann. Ueber seinem Kopfe war ein Stimmengemurmel vernehmbar, welches ab- und zunahm wie das Geräusch des Wellenschlages.

Oben angelangt, stieß er auf ein Brett über ihm, welches er mit Hülfe nur der einen Hand unschwer zu heben vermochte. Licht quoll ihm entgegen, und er kletterte jetzt vollends hinauf in einen nicht allzugroßen saalartigen Raum, in welchem etwa vierzig Personen an rohen Holztischen saßen. Halbgeleerte Gläser und Flaschen standen umher; dazwischen brannten Talgkerzen spärlich in dichtem Tabaksrauche.

„Ist Karl Hornemann noch hier?“ rief der Doctor in den Aufstand, welchen sein unerwartetes Kommen verursachte.

„Ja,“ tönte es zurück.

„Nimm ein Licht, Karl, und komm her! Die anderen Lichter auslöschen und die Fenster öffnen! Man ist uns auf der Spur.“

„Vorwärts, sechs Mann für die Wächter formirt!“ rief eine auffallend hohe Stimme, und eine Gestalt, welche derjenigen des Doctors an Größe nichts nachgab, ergriff das einzig übrige, auf einer Art Rednertribüne brennende Licht und stieg mit weiten Schritten auf die Dielenöffnung zu; die anderen Lichter waren im Nu erloschen. Man machte sich an den Fenstern zu schaffen, welche von außen noch mit Jalousien verdeckt waren. Die Gestalt mit dem Lichte sah, besonders in der schwachen Kerzenbeleuchtung, höchst wunderlich aus – ein Mann, auf dessen im Verhältnisse kleinem Kopfe eine gestickte Hausmütze mit Troddel saß und welcher überdies ein langes, schlafrockartiges Kleidungsstück trug. Sein Gesicht, welches, abgesehen von den Augen, wenig an die Züge der schönen Emilie erinnerte, war frauenhaft zart, mit schwachem Anfluge von Backenbart. Ein Zug milden Ernstes charakterisirte dasselbe, und die Augen, welche klar und fest blickten, hatten doch zugleich etwas von jenem warmen Glanze, welcher empfindsame Gemüther bezeichnet. Das war Karl Hornemann, Emiliens Bruder.

„Ein unterbrochenes Opferfest, Heinrich!“ sagte er mit stillem Lächeln. „Sind die sechs Bürger bereit?“ wandte er sich wieder mit seiner hohen Stimme an den Haufen.

Die Angeredeten traten herzu und reichten den Beiden mit kräftigem Drucke die Hände. Es waren Handwerker und Arbeiter, jüngere Leute, welche nicht ohne eine gewisse Aengstlichkeit die Gesichter ihrer beiden Führer studirten, aber, durch die ruhige Haltung Karl Hornemann's getröstet, muthig nach einander zwischen den Dielen hinab tauchten.

„Schwatzt sie möglichst weit bei Seite!“ nickte Karl Hornemann ihnen zu, und der Doctor rief ihnen nach: „Es ist augenblicklich nur eine Wache in der Nähe, vor unserem Ausschlupf in der Wallstraße, so glaube ich. Nehmt sie besonders auf's Korn, aber sichert auch die anderen Straßen! Nur um's Himmelswillen die Sache nicht leicht nehmen!“

„Bürger,“ sprach dann der Doctor nach dem Saale zu, „die Polizei weiß ziemlich Genaues um unsere Zusammenkünfte. Ich habe den Polizeicommissar Donner, der uns auflauerte, vielleicht sogar hier Euch überrascht haben würde, gründlich in den April geschickt, aber unsere Lage ist ernst. Wir werden zunächst gut thun, für zwei Monate unsere Versammlungen ganz aufzugeben, bis die Polizei sich beruhigt hat oder der Augenblick zum Handeln gekommen sein wird. Wir sorgen dafür, daß Ihr von Allem, was zu wissen nöthig, dennoch unterrichtet werdet. Es lebe die Freiheit, es lebe die Constitution!“

„Hoch!“ scholl es dumpf im Saale.

Karl Hornemann setzte das Licht auf den Boden, während sich die Männer näher um die Oeffnung sammelten.

„Herr Doctor,“ sagte Einer, eine kräftige Figur, welche zwei wahre Riesenfäuste vor sich hinreckte, „ich wollte, es ginge erst los. Das Heimliche will mir nicht gefallen.“

„Nur ruhig, Schmiede-Attes!“ lachte der Doctor, „das Eisen ist noch nicht roth.“ Ein leises Lachen ging durch den ganzen Kreis.

„Wo ist denn der Commissar?“ fragte ein Anderer in blauer Blouse.

„Ich habe ihm erzählt, Ihr wäret zu Kahn in den 'Rothen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_022.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)