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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Seele wollte ja einem Anderen ein seltenes Vergnügen machen – ich gestehe, nie hätte es mir Amusement gewähren können, nach einer lebendigen Scheibe zu schießen.

Verstimmt kam ich zu Hause an. Langsam, ach so entsetzlich langsam schleppte sich der Vormittag hin. Die Arbeit gewann keinen Zug; die Schwingen der Gedanken waren bleibelastet – da endlich, Nachmittags, rollte ein Wagen in den Hof. Herr von T. ist mitgekommen; der zweite Theil des Dramas beginnt.

Also Sie haben mir einen Schaufler angebunden?“ so begrüßte mich der Herr. „Na, das, bekenne ich, ist mir noch nie geboten worden.“

„Würd Ihnen auch kaum ein zweites Mal geboten werden,“ ergänzte der Oberförster.

In waidgerechter Ausrüstung brach die Expedition auf – mir war zu Muthe, als würde ein Unrecht verübt. Der Seltenheit des Falles zu Ehren, schlossen sich die beiden Damen des Hauses, die Tochter meines Principals und eine Verwandte, der Partie an. Der Hirsch hatte unser Kommen von Weitem gehört; noch fern vom Orte konnte man die jungen Wipfel des Hörstchens, welches den Schaufler fest hielt, bereits die Lüfte peitschen sehen. Als der Gefangene eine für seine Begriffe entsetzliche Anzahl von auf’s Aeußerste gefürchteten menschlichen Wesen in immer bedrohlichere Nähe anrücken sah, gerieth er geradezu außer sich, wozu der damals hochmoderne weiße Camail, mit welchem das Fräulein Tochter auf dem Tableau erschien, viel beitragen mochte.

Aber trotz Allem hielt das Seil noch fest, und auf circa zwölf bis sechszehn Schritt Distanz stellte sich der begünstigte Herr auf, legte sich in Anschlag und – das Schloß wollte und wollte nicht losschlagen; dabei befand sich der Hirsch bald in den Lüften, bald am Boden, sich nun um seine Längs-, dann aber um die Querachse drehend. Eher hätte die Kugel die Läufe zerschmettern, das Geweih treffen, als das „Blatt“ finden können. Ich empfahl deshalb einen kurzen Aufschub der Execution, da voraussichtlich das keuchende Thier wenigstens auf Augenblickslänge einmal nach Luft schnappen und still stehen mußte.

Herr von T. setzte ab, aber da der Kämpfende in seinem Befreiungswerke nicht um eines Pulsschlags Dauer nachließ, so legte unser Gast wieder an – abermals versagt das Schloß. Endlich schreitet man zur näheren Ermittelung des vorliegenden Hindernisses. Dies wird bald beseitigt. Nun ist alles in Ordnung; Schloß und Stechschloß spielen exact zusammen. Herr von T. liegt im Anschlag – jetzt – jetzt muß das Gewehr Feuer geben – Aller Augen haften auf dem Hirsche – Herr von T. zielt sehr scharf – da! sch–n–a–a–r–z reißt das Seil entzwei; der Hirsch stürzt auch ohne Kugel zur Erde, rafft sich blitzschnell auf, verschwindet hinterm Hörstchen, flieht mit mächtigen, schlanken Lançaden hinter Hoch und über Niedrig hinweg in einem vollen Viertelkreise um seine Dränger herum, mit dem Schmucke eines Netzstückes am Hinterkopfe, welches als Allonge im Tempo der Flucht auf- und niederklappt, und fern verschwindet er, hin und wieder im Luftsprung, immer mehr verkleinert, noch einmal erscheinend.

Ein fünfkehliges, homerisches Gelächter unsererseits begleitete die Flucht des endlich und zwar im letzten verhängnißvollen Augenblicke noch Erlösten, und dieser Jubelruf legt wohl besser, als Worte es vermögen, Zeugniß dafür ab, daß im Grunde keiner der Anwesenden den Tod des edlen Thieres, namentlich so zur Unzeit, gewünscht hatte, und jeder ihm die Befreiung gönnte, um die es seit dem frühen Morgen ehrlich und andauernd gekämpft hatte.

Einer der fünf Zeugen, der Oberförster, liegt schon längst zu letzter Ruhe gebettet. Wie ich aber noch lebe und gesund bin, werden es hoffentlich die übrigen drei Zeugen ja auch sein. Sollten sie die vorstehend niedergelegte Schilderung zu Gesicht bekommen und durch die Auffrischung jenes Vorganges sich an eine angenehm verlebte Zeit erinnern, so soll mich dies aufrichtig freuen, und rufe ich ihnen zu: Ein herzliches Waidmannsheil!

D.




Blätter und Blüthen.


Ein lebender Walfisch in der Luft. Wer längere Zeit in New-York lebt, muß sich daran gewöhnen, eine Ueberraschung, oder wie man hier sagt, „eine Sensation“ nach der anderen vom Stapel laufen zu sehen. Das Neueste ist das heute, am 15. December 1876, mit allem Effect in’s Werk gesetzte Aufwinden eines Walfisches. Zur Erklärung mögen folgende Notizen dienen.

Seit dem 11. October vorigen Jahres erfreut sich New-York eines großartigen See- und Flußwasser-Aquariums, in dem, außer den üblichen Tanks mit vorderer Glasfront, auch ein im Durchmesser fünfundzwanzig Fuß großer kreis- oder vielmehr walzenförmiger Behälter ein neun Fuß langes Exemplar des weißen Walfisches beherbergt. In den ersten Monaten seines Aufenthaltes wurde dem Thiere wöchentlich drei Mal eine Portion frischen Seewassers zugetheilt, das man anfänglich aus der offenen See, später aus dem sogenannten Eastriver, das heißt der engen Wasserstraße, durch welche New-York von Long-Island getrennt wird, holte. Aber es stellte sich heraus, daß es in dieser Weise unmöglich sei, den riesigen Behälter stets mit reinem, durchsichtigem Wasser zu versorgen; theils zufällige Verunreinigungen, theils die Abgänge der vielen Aale und anderen Futterfische sowie des Walfisches selbst machten das Wasser so dick und schmutzig, daß man sich zu einer energischen Reinigung entschließen mußte. Es sollte bei dieser Gelegenheit denn auch davon Abstand genommen werden, stets neues, kostspieliges Seewasser zu holen, und statt dessen Leitungswasser genommen werden.

In Europa hätte man wahrscheinlich die ganze Aenderung zu früher Tageszeit in aller Stille vorgenommen, vielleicht auch versucht, durch allmähliche Vermischung des einmal vorhandenen Seewassers mit Flußwasser eine Aenderung zum Besseren eintreten zu lassen. Nicht so hier. Die Zeitungen hatten schon Tags vorher auf das kommende Ereigniß aufmerksam gemacht, das in nichts Geringerem bestehen sollte, als den Walfisch aus dem Wasser zu winden und, während derselbe über dem Behälter schwebte, letzteren gründlich auszuputzen, und dem zu Folge hatte sich denn auch eine nach Aufregung begierige Menge eingefunden, die geduldig stundenlang auf das versprochene Schauspiel wartete. Die Sache wurde folgendermaßen in’s Werk gesetzt: An vier passenden Stellen an der Decke des Gebäudes waren Winden angebracht, von denen Seile an die Ecken eines quadratischen Segeltuches von zwanzig Fuß Seitenlänge gingen. Dieses Segeltuch wurde am Boden des Behälters entlang gezogen, und während sich der Wal über demselben befand, gleichmäßig aufgewunden.

Unter den Klängen eines Festmarsches begann die Arbeit. Mit Beihülfe der Besucher wurde an den vier Eckseilen und vier zwischen denselben befestigten Seilen kräftig gezogen, und schon glaubte man die Schwierigkeiten beim ersten Versuche bewältigt zu haben, als der Walfisch, dem die Sache wohl zu auffallend vorkommen mochte, um sich ruhig darein zu ergeben, mit einigen effectvollen Schwüngen an einer tieferen Stelle des Tuches wieder heraus und in’s Wasser zurückplumpste. Das Publicum, das natürlich in dichten Schaaren den von Glasplatten eingefaßten Behälter umlagert hielt, war jetzt in die gewünschte Aufregung versetzt und gerieth in eine noch größere, als der „Manager“, hoch auf der Brüstung des Behälters stehend, mit Stentorstimme dazwischen rief: „Bitte, meine Damen und Herren, treten Sie etwas zurück – es ist für den Fall eines Unglücks.“ Wohl in Erinnerung an die erst kürzlich im Brooklyner Theater ausgebrochene entsetzliche Panik stob Alles auseinander, um der bei einem etwaigen Bruche einer Glasscheibe vorauszusehenden Ueberschwemmung auszuweichen, und mehrere Damen saßen erschöpft vor nervöser Aufregung auf rückstehenden Divans, um sich von dem stattgehabten Schrecken zu erholen. Gottlob, passirte aber nichts, und der Versuch wurde mit ungeschwächten Kräften nochmals und zum dritten Male wiederholt, um aber jedesmal, wie der erste, zu mißglücken. Jedermann hatte nun guten Rath feil. Der eine wollte zuerst das Wasser abgelassen haben, der andere ein Netz anstatt eines Tuches anwenden, und ein mir zur Seite stehender Musiker, ein Landsmann von der „Gartenlaube“, äußerte, er sei doch „neichierich“, ob sie ihn noch „‘rausholen“ würden. „Warum nehmen sie aber auch nicht Maschinen zum Aufwinden,“ sagte er, „es ist doch unmöglich, die große sich im Tuche fangende Wassermenge zu heben.“ (Ein Netz war vermieden worden, um dem Thiere nicht durch den Druck der Stricke zu schaden, und das Wasser floß durch zahlreiche in das Segeltuch gebohrte Löcher genügend ab.)

Mittlerweile war aber das Tuch wieder in eine günstige Lage gebracht und das Commando zum Aufwinden gegeben worden: jetzt, durch vorherige Fehler gewarnt, hoben die Arbeiter dasselbe so gleichmäßig und stetig aus dem Wasser nach oben, daß dem Walfisch keine Möglichkeit zum nochmaligen Entschlüpfen blieb; in wenigen Minuten hing er sechs Fuß hoch über dem Becken, und das zahlreiche Publicum begrüßte ihn in seiner neuen Lage mit fröhlichem Händeklatschen, dem die Musik mit einem wohlangebrachten Triumphmarsche folgte. Rasch floß nun das trübe Seewasser ab; die Reinigung und einige praktische Veränderungen wurden am Boden des Behälters vorgenommen, und schon am Abend desselben Tages erfreute sich der Walfisch, der während seines unfreiwilligen Luftbades mit Hülfe einer Douche stets feucht erhalten wurde, seiner kürzlich verlassenen Heimath wieder.

Schließlich sei noch erwähnt, daß der hier ausgestellte Walfisch nicht zu einer der großen, bartentragenden Art gehört, sondern ein Exemplar des sogenannten weißen Wales oder der Beluga (Delphinapterus leucas s. catodon) ist. Er wurde im April dieses Jahres an der Küste von Labrador gefangen und ist bereits der dritte seines Geschlechtes, der von Abgesandten des hiesigen Aquariums erbeutet wurde. Die zwei ersten gingen an Verletzungen in dem anfänglich unzweckmäßig eingerichteten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_039.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)