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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


das habe ich oft gefühlt, daß wir Frauen in unserer Jugend – ich meine wir, die wir mit den gewöhnlichen Sorgen des Lebens nicht zu kämpfen haben, denen ein gütiges Schicksal schon vor der Geburt eine reiche, schöne Heimath bereitet hat – ich meine, daß wir unserm Gefühlsleben eine zu große Wichtigkeit einräumen. Wie voll überschwänglichen Glückes sind nicht unsere Jugendträume! Wir erbauen uns in unserer Phantasie ein Haus und durchleuchten es mit ewigem Sonnenschein. Man läßt uns Zeit – denn ernste Pflichten haben Mädchen unseres Standes selten zu erfüllen – es mit Gestalten zu bevölkern, die dem Boden der Wirklichkeit nicht entsprossen sind, die unsern kindischen, überspannten Hoffnungen, nicht aber dem alltäglichen Leben angehören.“

„Sie sprechen aus Erfahrung, Frau Helene?“ fragte er, und während er sprach, ließ er seinen Blick forschend auf ihrem zarten, vom Mondschein beleuchteten Gesichte ruhen.

„Sicherlich thue ich das,“ entgegnete sie schnell. „Ich leugne es nicht, daß ich mir von vielen Dingen – und auch von vielen Menschen – mehr versprochen habe, als sie im Stande waren zu halten. Es sei fern von mir, jenen daraus einen Vorwurf machen zu wollen. Ich erkenne gern an, daß nicht sie die Schuld daran trugen, sondern lediglich mein eigener thörichter Kopf. Aber diese Zeiten sind zum Glücke lange vorüber. Die Schule, die ich habe durchmachen müssen, war vielleicht keine ganz milde; allein sie hat ihren Zweck erreicht. Sie hat mich gelehrt, mich mit dem Möglichen zu bescheiden und keine Wünsche zu hegen, deren Erfüllung nicht in der ruhigen Fortentwickelung des Gegebenen liegt.“

Sie blickte zu seinem Gesichte empor und sah, daß es bleich und leidend aussah. Ihr Herz fing schmerzlich an zu klopfen – sie fühlte die Nothwendigkeit, dem Gespräche eine andere Richtung zu geben.

„Es wäre auch schlimm, lieber Freund,“ sagte sie leichter und heiterer sprechend, „wenn eine alte Frau wie ich sich noch thörichten Jugendphantasien hingeben wollte. Lächeln Sie nicht – ich fühle in Wahrheit, daß ich alt werde. Erinnern mich doch alle Dinge, die ich schaue, daran, daß eine lange Zeit zwischen heute und meiner Jugend liegt. Sehen Sie,“ fuhr sie fort, dicht an die Balustrade tretend und auf eine Linde hinweisend, die mit theilweise bloßgelegten Wurzeln dicht über dem Abgrunde schwankte, „dieses Baumes weiß ich mich zu erinnern, als er noch mehrere Schritte vom Abhange entfernt stand. Damals stand er innerhalb der Balustrade; er hat mit seinen überhängenden Aesten oft meine kleine Hängematte getragen, als ich nicht älter war, als jetzt mein Felix ist. Meiner Mutter waren zu jener Zeit Seebäder verordnet, und mein Vater hatte diesen Grund und Boden gekauft und ihr das Sommerhaus darauf gebaut. Hier habe ich gar oft gelegen und mich vom frischen Seewinde schaukeln lassen. Aber wieviel Sandkörnchen sind seitdem den Abhang hinabgerollt, wie oft hat der Wind in den Aesten rütteln müssen, bis es ihm gelungen ist, den alten treuen Baum so weit zu bringen, daß man mit Sicherheit voraussehen kann, es ist dies der letzte Sommer, dessen er sich freut. Die Herbststürme werden ihn unfehlbar zu Fall bringen, und zwar trotz der Mühe, die sich Jeder von uns gegeben hat, ihn zu erhalten. Mein Mann, der sich für diesen alten Freund aus meiner Kinderzeit auch lebhaft interessirte, hatte ihm zum Schutze den Abhang mit Weidenstecklingen bepflanzen lassen. Sie gingen aber ein in dem dürren Sande. So sehe ich ihn unrettbar dem Untergange geweiht – und so habe ich schon viel Werthvolleres dahin gehen sehen. Solche Erfahrungen aber, mein Freund, machen ernst und alt. Glauben Sie mir, jedes der zwanzig Jahre, die vergangen sind, seitdem meine Hängematte hier hing, hat mehr als die gewöhnliche Anzahl der Tage gehabt.“

„Ich erkläre mir das dadurch, Frau Helene,“ erwiderte er, „daß Sie von jeher ernster, beobachtender, inniger gewesen sein mögen, als andre Kinder, Sie haben eben früher angefangen zu leben. Selbst damals, als ich Sie kennen lernte – Sie waren in jenen Tagen fast noch Kind – wurde ich oft überrascht durch die Tiefe und den Ernst Ihres Wesens. Sie lebten ein andres Leben, als das heitere Schmetterlingsleben Ihrer Cousinen, das Sie doch theilten.“

„Sie täuschen sich, mein Freund. Entsinnen Sie sich nur, wie oft Sie mir damals meine Spottsucht und meinen Uebermuth zum Vorwurfe machten!“

„Ich weiß das wohl. Aber dieser lachende Uebermuth war Ihnen etwas bis dahin Unbekanntes gewesen. Er brach zur Ueberraschung Ihrer Verwandten plötzlich hervor mit einem Glanze, der uns Alle entzückte. Und doch sahen sie nur den Widerschein, lernten sie nur die Nachwirkung dessen kennen, was reich und von den Meisten ungeahnt in Ihrem Innern aufgelebt war. Ich aber, Helene, ahnte es – und es machte mich trunken von Glück.“

Er hatte mit bewegter Stimme geendet. Schweigend schritten sie nebeneinander den Weg entlang. Aber während die Lippen der jungen Frau geschlossen blieben sprach eine Stimme in ihrem Innern das Urtheil aus: er wußte also um meine Liebe – er erkannte den Ernst und die Tiefe derselben, und dennoch konnte er unserer Trennung kein Wiedersehen folgen lassen. „Da kommt der Doctor,“ sagte sie nach einer kleinen Pause ruhig.

Gerhardt fuhr aus seinen Gedanken und beschleunigte gleich seiner Begleiterin die Schritte, um Jenen zu erreichen.

„Wünschen Sie mir Glück, Frau Helene,“ sagte der Arzt in einem Tone, der Kunde gab von der freudigen Erregung seines Wesens – „wünschen Sie mir Glück, und ich kann Ihnen frohen Herzens ein Gleiches thun. Eben habe ich Felix' Füßchen untersucht und zum ersten Male die volle Ueberzeugung gewonnen, daß die Operation gelungen ist. Wenn Ihr wüßtet, was es heißt, trotz der gewissenhaftesten Pflichterfüllung des Erfolges nicht sicher zu sein, wenn Ihr die Pein kenntet, an seiner Kunst oft gerade da verzweifeln zu müssen, wo man den besten Theil seines Selbst hingeben möchte, um ein günstiges Resultat zu erlangen; wenn Ihr, wie ich, unter dem Jammer dieser Unzulänglichkeit gelitten hättet, dann könntet Ihr mir die Freude nachfühlen, womit ich jetzt sage: es ist gelungen.“

Er hatte mit einer Empfindung gesprochen, die dem ruhigen, sarkastischer Wesen des Mannes sonst fremd war. Jetzt nahm er den Hut ab und ließ die erhitzte Stirn vom Nachthauche kühlen.

„Lieber Doctor,“ entgegnete Helene mit bewegter Stimme, „Sie wissen, wie tief ich in Ihrer Schuld schon stehe, und wie fast jeder Tag Ihre Schuldforderung an mich noch vergrößert. Ich bin gewohnt, Ihre Anordnungen vertrauensvoll gut zu heißen – heute aber muß ich doch mit Ihnen rechten. Sie haben heute erst Gewißheit erlangt über den Erfolg der Operation, und mich ließen Sie in ruhiger Sicherheit dahinleben? Sie haben mir die Gefahr verheimlicht, worin mein Kind schwebte? Doctor, Ihre Absicht mag gut gewesen sein – aber war es recht, so an mir zu handeln?“

„Ich hielt es dafür,“ lautete die schnelle Antwort. „Noch habe ich nicht die Zeit vergessen, wo ich einen hoffnungslos Kranken in Ihrem Hause behandelte. Damals hatten wir Ihnen den sichern Ausgang nicht verheimlichen können. Ich habe gesehen, wie schwer Sie unter dieser Hoffnungslosigkeit gelitten haben. Nun, Frau Helene, ich konnte es nicht über das Herz gewinnen, Ihnen etwas Aehnliches wieder anzuthun. Glauben Sie mir, es ist mir nicht leicht geworden, meinen Zweifel, meine Unruhe still zu tragen, wenn ich in Ihre hoffnungsfreudigen Augen blickte! Ich habe keine Vorwürfe verdient – reichen Sie mir die Hand und sagen Sie: Ich danke, Doctor.“

Die junge Frau erfüllte sein Verlangen, dann wandte sie sich dem Hause zu.

„Bleiben Sie noch, ich bitte,“ sagte sie zu den beiden Männern, die ihr schweigend nachschauten, „ich möchte Ihnen noch besser 'Gute Nacht' sagen als ich es jetzt vermag. Zuvor aber muß ich noch zu meinem Sohne; er ist daran gewöhnt, vor dem Einschlafen meinen Kuß zu empfangen.“

„Mir ist zu Muthe, Gerhardt, als sei eine Centnerlast von meinen Schultern genommen,“ sagte der Doctor, als die junge Frau in's Haus getreten war. „Ich kann Dir nicht beschreiben, wie sehr ich unter der Qual dieses Zweifels gelitten habe. – Wie oft haben die schwersten Selbstvorwürfe mich gepeinigt, daß ich den Kräften des zarten Kindes zu viel zugemuthet – daß mich der Wunsch, das Antlitz der Mutter glücklich lächeln zu sehen, verleitet hätte, die Operation zu beschleunigen, die ich ganz wohl erst in einigen Jahren hätte vornehmen können. Freilich hatte ich auch wieder die Entschuldigung für mich, daß gerade diese Art Uebel, je früher, desto sicherer geheilt wird. – Aber obwohl ich mir dies immer wiederholte, habe ich doch seit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_078.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)