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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Wochen keine ruhige Stunde gehabt. Mit einer Angst, wie ich sie noch niemals empfunden habe, ging ich heute daran, die Bandagen und Schienen zu lösen – und siehe da! Alles ist so, wie ich es nicht besser wünschen kann. Das Bürschchen hat jetzt zwei gesunde Füße – der eine ebenso gerade und ebenso lang wie der andere. Ich sage Dir, kein Vater könnte sich mehr darüber freuen, als ich es thue.“

„Du liebst den Kleinen sehr?“ fragte Gerhardt.

„Wie sollte ich nicht?“ entgegnete der Doctor. „Habe ich ihm doch mit Mühe und Noth in's Leben geholfen und dadurch so eine Art Vaterrecht über ihn erworben. Ich habe stets eine Vorliebe für Kinder gehabt – Du mußt Dich dessen noch von früher her erinnern – es pflegten mir immer einige an den Rockschößen zu hängen. Nun, für dieses Kind aber fühle ich mehr, als für irgend ein anderes, schon der Mutter wegen. Du weißt doch, daß ich mit der Familie von Malwitz verwandt bin; Malwitz und ich waren Vettern im zweiten Grade, und ich bin zu einer Zeit Arzt im Hause gewesen, die wohl geeignet war, die Menschen einander näher zu bringen. Es war nach Malwitz’s Verwundung bei Königgrätz. Die Sache schien anfangs ungefährlich zu sein, und ihm war in Folge dessen die Heimreise gestattet worden. Aber bald nach seiner Rückkehr – ich selbst hatte ihn abgeholt und mit aller Sorgfalt, deren sein Zustand bedurfte, heimgeleitet – sah ich, daß es eine Wendung zum Schlimmen mit ihm nahm und daß sein Zustand mit jedem Tage bedenklicher wurde. Eine Verheimlichung war unmöglich – bei seinem Anblicke mußte auch das Auge des Laien erkennen, daß hier nichts mehr zu hoffen war. Und dieser gräßliche Zustand dauerte nicht etwa nur Wochen – es gingen Monde darüber hin, und immer war die Frau an seiner Seite, still und geduldig zu jedem Dienste bereit. Wie lebensmüde und wie hoffnungslos sie war – wie dieses Nicht-sterben-können und Nicht-leben-dürfen auf ihr Gemüth gewirkt hatte, das erkannte ich erst, als in all diesem Jammer das Kind geboren wurde. Die Rechte des armen Jungen war ihm schon vor der Geburt verkümmert worden. Die Mutter hatte ihn und sich selbst vergessen über dem Wunsche, die letzten qualvollen Tage des Gatten zu erhellen. Der Vater – der arme Mann – hatte am eigenen Elend genug zu tragen – ihm war Alles um ihn her gleichgültig geworden. So kam es, daß bei der kaum zwanzigjährigen Frau jeder Lebenswunsch und jede Lebenskraft so darniederlag, daß das Bürschchen es nur mir zu verdanken hat, daß sein Geburtstag nicht zugleich sein Todestag wurde. Du siehst, ich habe beinahe Vaterrechte an dem Jungen, fast ebensolche, wie der arme sieche Mann, dessen letzter Athemzug beinahe in dieselbe Minute fiel, in der sein Sohn den ersten Schrei ausstieß. – Unter diesen Umständen ist meine Vorliebe für das Kind gewiß erklärlich.“

Die beiden Männer waren während des Gesprächs den Kiesweg entlang geschritten, welcher den Rasenplatz umgab. Sie hatten die Hinterfront des Hauses vor sich, und hier waren es hauptsächlich zwei von faltigen rothseidenen Vorhängen verhüllte Fenster, welche die Blicke Schack’s anzogen. Hinter diesen Vorhängen glänzte ein mildes, verschleiertes Licht: die Nachtlampe in Frau Helenens Schlafgemach, und der Schatten einer schlanken Gestalt – Schack erkannte sie deutlich – glitt an den Vorhängen hin. „Er liebt den Knaben wie sein eigenes Kind – er sagte, er sei ihm um der Mutter willen theuer – es kann kein Zweifel obwalten: er liebt sie. Und ebenso zweifellos ist es, daß auch sie ihn nächst ihrem Kinde am meisten liebt. Anfangs mag es nur Dankbarkeit gewesen sein, und vielleicht ist es auch jetzt nicht viel mehr. Aber dieses Gefühl ist so innig und tief, daß er mit Geduld und Beharrlichkeit sicherlich zu seinem Zwecke gelangen wird.“

Er wandte sich mit einem halbunterdrückten Seufzer ab, um weiter zu schreiten, blieb aber wieder stehen, als sein Gefährte ihm nicht folgte. Dieser stand da und blickte aufmerksam durch die weitgeöffneten Flügelthüren in den Saal hinein, der nur durch eine einzige, auf einem Tische brennende Lampe matt erhellt war. An diesem Tische saß Rosa von Malwitz. Vor ihr lag ein Buch, sie schien aber nicht darin zu lesen; denn während der Zeit, daß die beiden Männer sie betrachteten, wandte sie weder ein Blatt um, noch veränderte sie ihre Stellung. Sie saß da, einen Arm auf den Tisch gestützt, das Haupt tief gesenkt und mit der Hand das Gesicht so beschattend, daß der Ausdruck desselben den Blicken der Beobachter entzogen blieb. Aber die Haltung des jungen Mädchens und ihre starre Unbeweglichkeit sprachen dafür, daß keine heitern Gedanken sie beschäftigten. Da öffnete sich die Thür ihr zur Seite, und Frau Helene trat ein. Man sah, daß die junge Frau freudig bewegt war; ihr Gesicht war von milder Röthe übergossen und zeigte einen Ausdruck strahlenden Glückes. Sie blieb neben ihrer Stieftochter stehen, um mit ihr zu sprechen, beugte sich nieder zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Da kam plötzlich Leben in die unbewegliche Gestalt. Mit einer hastigen, ungestümen Wendung, als ob sie etwas Widerwärtiges von sich abschütteln wollte, entfernte sie die Hand von ihrer Achsel. Sie war aufgesprungen und stand ihrer Stiefmutter gegenüber, augenscheinlich zornige Worte ihr entgegensprudelnd. Plötzlich aber hielt sie inne, verhüllte mit den Händen ihr Gesicht und brach in leidenschaftliche Thränen aus. Dann eilte sie aus dem Zimmer, die Thür heftig hinter sich in’s Schloß werfend.

„Welch’ ein stürmisches, unberechenbares Temperament dieses Mädchen hat!“ sagte Schack im Tone herber Unzufriedenheit. „Das Zusammenleben mit ihr muß eine Qual sein. Hätte ich hier einen Einfluß geltend zu machen – ich würde diese kleine Tyrannin aus dem Hause schaffen. Sie müßte mir unter ernste Aufsicht kommen; ein strenges Pensionat für ein oder zwei Jahre wäre eine dienliche Sache für sie.“

„Wenn ein Mädchen achtzehnjährig ist, kann man sie nicht mehr gut in die Schulstube stecken,“ entgegnete der Doctor bedenklich. „Aber ich wüßte dennoch ein Mittel: Man müßte ihr einen Mann finden, der es verstände, sie in guter, ehelicher Zucht zu halten.“

„Sieh mich nicht so prüfend an!“ rief Schack lachend. „Selbst wenn Du in mir die nöthigen Eigenschaften erkennen solltest, dieses böse Käthchen im Zaume zu halten – ich würde mich dennoch niemals dazu verstehen, ihren Petruccio zu machen.“

„Auch nicht aus Freundschaft für Frau Helene?“ fragte der Doctor lächelnd. „Es läßt sich nicht verkennen, sie leidet unter dieser Ungleichheit der Laune. Schau hin, wie in Gedanken verloren und wie niedergeschlagen sie dasteht!“

„Deshalb eben will ich, daß Du der Sache so schnell wie möglich ein Ende machst, Doctor. Du darfst es nicht zugeben, daß man sie in ihrem eigenen Hause und unter Deinen Augen tyrannisirt. Du hast ja hier so eine Art von Hausherrnrecht occupirt – mache es geltend! Es wäre das ein gutes Werk.“

„Du willst mich also durchaus zu Frau Helenens befreiendem Ritter machen? – Du bist indessen kein zuverlässiger Rathgeber – Du bist Partei in der Sache. Wir müßten da doch tiefer auf den Grund gehen. Es ist ein alter Erfahrungssatz, daß, wo zwei sich nicht vertragen, die Schuld gewöhnlich an beiden Theilen liegt.“

„Das sagst Du nach der Scene, deren Zeuge ich heute gewesen bin? Ich dächte, das Benehmen am Theetisch gegen Dich könnte Jeden davon überzeugen, wer hier der Friedensstörer ist.“

„Bitte, laß mich aus dem Spiel!“ rief der Doctor, „wir sprachen ja von Frau Helenens Leiden und nicht von den meinigen.“

„Aber Du kannst doch Niemand verwehren, aus dem Betragen der jungen Dame gegen Dich Schlüsse zu ziehen, wessen ihre Hausgenossen sich von ihr zu versehen haben.“

„Sie ist nicht ganz so schuldig, wie es scheint – ich will gerecht sein und gestehen, daß ich sie reize. Ich liebe den Kampf mit ihr; ihr Zorn erfrischt mich wie ein Wellenbad. Anfangs findet man es etwas frisch – vielleicht auch ein wenig zu frisch – aber bald fühlt man sich ganz behaglich. Ich muß bekennen, sie gefällt mir nie besser, als wenn sie zornig ist.“

„Ueber den Geschmack läßt sich nicht streiten,“ meinte der Andere. „Ich erkenne willig die Berechtigung des Deinen an, wenn ich ihn auch nicht begreifen kann. Indessen kommt es hier nicht auf Deinen Geschmack allein an – Du solltest billig auch den Anderer berücksichtigen. Und bedenke, wie soll sich die Zukunft gestalten mit einer Hausgenossin, deren Gegenwart Behagen, Friede und Ruhe illusorisch macht?“

„Durchaus nicht!“ sagte der Doctor behaglich; „ihr Temperament mag gefährlich sein, aber nicht für den, der Meister darüber bleibt. Ich bin stets als Sieger aus unsern Kämpfen hervorgegangen, und so wird es auch in Zukunft bleiben.“

„Verzeih!“ entgegnete Schack mit zuckender Lippe, „ich sprach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_079.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)