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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


herbeizuführen wünschte, darüber konnte das junge Mädchen nicht im Zweifel sein. Die alte Dame zeigte offen ihre Vorliebe für Doctor Simonis, ja, sie hatte sogar schon mehrmals zu ihrer Tochter in Rosa’s Gegenwart Andeutungen gemacht, die es deutlich erkennen ließen, daß sie ihn für den einzigen Mann halte, der im Stande sei Helenens und vor allen Dingen Felix’ Glück zu begründen. Dergleichen Aeußerungen hatte die junge Frau nie verstehen wollen. Stets hatte sie eine Wendung gefunden, die das Gespräch in andere Bahnen lenkte, und dennoch – Rosa glaubte sich nicht zu täuschen, wenn sie bei Helene ein tiefes Interesse für den Arzt voraussetzte. Sie fügte sich stets vertrauensvoll seinen Anordnungen, und nicht nur den medicinischen; sie verhehlte nicht ihre Freude über seine Liebe zu ihrem Knaben und zögerte nie, sich in allen Dingen an ihn zu wenden, wo ihr der Rath oder die Hülfe eines Mannes noththat.

(Fortsetzung folgt.)




Von unserm Lieblingssänger.


Es ist kein Wunder, daß die Verehrer des Canarienvogels nach vielen Tausenden zählen und daß ihre Zahl sich in der gesammten gebildeten Welt immerfort mehrt, und hoch obenan unter allen Canarien steht unbedingt der Vogel des Harzes. Er ist ein Sänger, dessen wundervolle Töne wohl die Entscheidung schwer machen, ob ihm die Palme gebührt oder den Gesangsköniginnen: Nachtigall, Sprosser, amerikanische Spottdrossel. Umsomehr ist es aber zu bedauern, daß es einige Uebelstände giebt, welche uns diesen theuergewordenen, goldigen Hausschatz zu beeinträchtigen und über kurz oder lang wohl gar völlig zu entziehen drohen.

Mit vollem Rechte haben die Sachkundigen darauf hingewiesen, daß der Harzer Canarienvogel in den besten Stämmen zweifellos zu Grunde gehen muß, wenn die Zucht und der Verkauf an Ort und Stelle, sowie die Behandlung von Seiten der Liebhaber nicht demnächst durchgreifende Veränderungen erleiden. Möchte diese Darstellung dazu dienen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf diesen in der That hochwichtigen Gegenstand zu lenken, um den kostbaren Vogel, der gleichsam als ein deutsches Nationalgut betrachtet werden darf, in seinem vollen Werthe zu erhalten.

Zunächst ist es ein Haupterforderniß, daß die große Mehrzahl aller gebildeten Leute den Vogel wirklich gründlich kennen lerne. Diese Kenntniß hat sich in den letzten Jahren förmlich zu einer Wissenschaft herausgebildet, und ich will auf Grund der Kundgebungen der hervorragendsten Kenner und Züchter, namentlich der Herren Controleur Böcker in Wetzlar, Lehrer Wiegand in Anspach und Händler Maschke in Andreasberg, in der in Berlin erscheinenden Zeitschrift „Die gefiederte Welt“, sowie nach eigenen Erfahrungen eine Schilderung des Harzer Vogels nach seinem ganzen Wesen geben und damit zugleich den Aufsatz in Nr. 11 der „Gartenlaube“ 1875 im Wesentlichen ergänzen.

Während die gemeinen und Harzer Canarienvögel in der Gestalt und Färbung nur wenig von einander abweichen (man findet goldgelbe und isabellfarbene Vögel unter den letzteren kaum), sind sie im Gesange und in der Lebensweise doch durchaus verschiedenartig. Der gemeine Canarienvogel wird für jedes musikalisch gebildete Ohr durch die Einförmigkeit seines Gesanges, vornehmlich aber durch die scharfen und schmetternden Töne nur zu leicht unausstehlich. Der vorzüglichste Sänger unter allen Finken, sagt Wiegand, ist der Harzer Canarienvogel. Man unterscheidet: erstens Kollervögel, zweitens Hohlroller, drittens Gluckervögel, viertens Rollvögel oder gewöhnliche Roller. Die Kollervögel sind seit mehreren Jahren in der Abnahme begriffen, der reine Gluckervogel ist fast gänzlich ausgestorben, dagegen werden auf Kosten jener jetzt beinahe nur Hohlroller und Roller gezüchtet.

Ein vorzüglicher Harzervogel leistet durch sein herrliches Lied Erstaunliches, und unter den Vogelliebhabern giebt es noch Tausende, welche den wundervollen Gesang der besten Stämme niemals gehört haben, die ihn daher nicht zu würdigen vermögen und namentlich nicht wissen, welche Forderungen von dem Kenner an die vorzüglichsten Canarien gestellt werden. Der Lockton eines solchen Vogels muß zart und flötenartig sein; er darf denselben aber nur selten hören lassen. Lockt der Vogel, ehe er sein Lied vortragen will, sechs- bis achtmal, so ist dies fehlerhaft; lockt er zwei- bis dreimal zart und leise, so läßt sich dies das Ohr des Kenners allenfalls gefallen, lockt er aber vor Beginn des Liedes gar nicht, so ist der höchsten Anforderung Genüge geleistet. Der Gesang muß mit einer zarten, langen Hohl- oder Lispelrolle beginnen, wohl auch mit einer feinen Flöte oder Hohlpfeife, wie „hü, hü, hü,“ drei- bis sechsmal erklingend. Im letztern Falle muß stets eine schöne, edle Rolle auf die Flöte folgen. Beginnt der Vogel mit einer edlen, leisen Rolle, so ist es dem Kenner am erwünschtesten, wenn dieselbe etwas angeschwellt wird; doch Vögel, welche diesen Anfang stets hören lassen, sind selten. Auf die Anfangsrolle müssen zwei bis drei andere, edle Rollen folgen[WS 1], und dann darf ein feiner Pfiff, eine Hohlflöte oder auch ein Glockenton, wie „dü, dü,“ oder „tü, tü,“ oder „du, du,“ oder „tzü, tzü,“ oder „tzu, tzu“ folgen. Sechs- bis zehnmal müssen letztere Töne angeschlagen werden und nicht hastig nach einander, sondern langsam, gemessen, getragen. Am schönsten ist jetzt der Fortgang des Liedes, wenn auf diese Nachtigalltöne eine ganz tiefe, lange Baßrolle folgt; nach dieser darf eine Hohlrolle, eine Hohlpfeife oder eine Koller kommen. Folgt auf die Baßrolle eine feine Hohlrolle, so klingt nach dieser die Koller am schönsten. Auf die Koller soll eine tiefe Hohlpfeife folgen und in dem Fortgange des Liedes müssen Hohlrollen, Schnatterrollen, nur wenige feine Triller, Klingelrollen, Gluckertöne, Schwirrrollen mit der Koller oder Baßrolle und den Hohlpfeifen in anmuthigen Verbindungen abwechseln. Der Schluß ist am schönsten, wenn ein tiefer Nachtigallton einmal angeschlagen wird, wie „tzü“ oder „tzu.“ Doch solche Vögel sind wiederum sehr selten. Die Länge und Vielfältigkeit der Touren bedingt ebenso sehr den Werth des Vogels, wie die Feinheit des Gesangorgans und die Schönheit der Stimme. Die Touren müssen so lang gezogen werden, daß man mindestens bis zwölf, allenfalls bis fünfundzwanzig und höchstens bis dreißig zählen kann. Ferner darf der Sänger nicht in seinem Gesange abbrechen, wenn er etwa drei bis sechs Touren gesungen hat, sondern er muß durchschlagen, das heißt er muß sein ganzes Lied ruhig und ohne Erregung, gleichsam leidenschaftslos und im vollen Zusammenhange vortragen. Er darf weder zu viel, noch zu wenig singen.

Damit die Liebhaber noch wissen mögen, welche technischen Ausdrücke für die Benennung der einzelnen Touren bei den Kennern und Züchtern gangbar sind, will ich dieselben noch anführen: Triller, grobe Rolle, Schnarrrolle, Krachrolle, Wasserrolle, Lispelrolle, Schwirrrolle, scharfe Schnatterrolle, feine Schnatterrolle oder Hohlschnatter, auch feine Schnatter genannt, Baßrolle, Hohlrolle (gerade abwärts gebogene und aufwärts gebogene Hohlrolle), Klingelrolle, Kollerrolle, Gluckerrolle, Pfiffe, Hohlpfeife, Glockentöne oder Nachtigalltöne, Gluckertöne oder Glucker, Wasserflöte Wasserglucker, Schnatterglucker, Koller, Gluckerkoller. Ich habe mit den minder schönen Touren im Aufzählen begonnen und so steigend die schöneren folgen lassen. Am herrlichsten erklingt eine tiefe, lange, abwärts gebogene Koller.

Die Feinheit der Stimme und der edle Ton des vorzüglichsten Kollervogels und des feinen Hohlrollers übertrifft jeden andern Sänger der Lüfte. Im Wohnzimmer, selbst im Studirzimmer kann man den feinen, leisen, anmuthigen Gesang eines solchen Harzervogels ertragen. Selbst wenn die Nerven des Besitzers etwas überreizt sind und ihm die Töne des gewöhnlichen Canarienvogels unausstehlich sein würden, ruft der feine Harzvogel gar oft durch sein herrliches, edles Lied neue Freude, neue Lebenslust, selbst in dem kranken Herzen hervor.

Es ist erklärlich, daß solch ein vorzüglicher Sänger und überaus werthvoller Vogel eine ganz besondere Pflege und Sorgfalt verlangt. Außer den allgemein gültigen Regeln und Erfordernissen der aufmerksamsten Vogelpflege: bestes Futter, regelmäßige Abwartung, äußerste Reinlichkeit und Behütung vor allen übeln Einflüssen, wie Zug, staubige oder verdorbene Luft, Kälte, Nässe etc., bedarf der Harzer Canarienvogel auch noch einiger andern, besondern Verpflegungsmaßregeln. Die Fütterung besteht

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: folgeu
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_082.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2019)