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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Sie erstieg die Stufen, die zu ihrem Garten emporführten. Es kreuzten sich so verschiedenartige Gedanken in ihrem Kopfe, daß sie sich danach sehnte, allein zu sein, um sie sammeln und ordnen zu können. Wie ein Blitz war ihr eben die Erkenntniß gekommen, was die Ursache von Rosa's verändertem Wesen sei. Mit plötzlicher Klarheit stand die Gewißheit vor ihr, daß Rosa den Arzt liebe, und daß sie, irre geleitet von ihrem freundschaftlichen Verhältniß, in dem Glauben befangen sei, in ihr eine glückliche Rivalin zu sehen.

„Das arme, thörichte Kind!“ sagte sie leise lächelnd vor sich hin – „das arme Kind, warum schenkt sie mir kein Vertrauen? Wie leicht hätte ich durch wenige Worte ihrem Kummer und ihrer Eifersucht ein Ende machen können! O, wenn ich es nur verstanden hätte, ihr herbes, sprödes Wesen dem Doctor gegenüber richtig zu deuten – vielleicht hätte ich dann schon eine Lösung herbeiführen können, die zwei liebe Menschen für's Leben glücklich gemacht hätte!

Mit diesen Gedanken beschäftigt, war sie oben im Garten angelangt, als sie schnelle feste Schritte den Weg daherkommen hörte. Im nächsten Augenblicke bog Doctor Simonis um die Hecke und stand heiter grüßend vor ihr.

„Guten Morgen, Frau Helene!“ sagte er, ihr die Hand reichend, „wie geht es heute mit Ihrem Kopfschmerz? Ich muß Bericht darüber an Gerhardt erstatten, der sich vermuthlich eine unruhige Nacht darüber gemacht hat. Denn schon heute mit dem Frühesten langte ein Billet von ihm an, mit der dringenden Bitte um Nachricht. – Sie erröthen, Frau Helene? Ei, ei, die Sache beginnt von beiden Seiten gefährlich auszusehen. Ein Erröthen – ein wirkliches mädchenhaftes Erröthen, wie ich es an Ihnen in all den Jahren, die ich als Freund Ihnen zur Seite stehe, nicht erlebt habe. Und was Schack anbelangt, so macht er alle unsere Illusionen in Betreff des Vergnügungs-Comités zu Schanden. Er erklärt, daß er mit Niemand Etwas zu thun haben wolle, ich solle ihm die Leute – mit einer einzigen Ausnahme natürlich – vom Halse halten. Er sei nicht in der Stimmung sich Unbequemlichkeiten aufzuerlegen um der Narrheiten Anderer willen. Kurz, sein Humor ist in's Menschenfeindliche umgeschlagen, immer mit der schon erwähnten einzigen Ausnahme. Denn was ihm bei Anderen eine Narrheit ist – das Amüsement – das scheint ihm in einem einzigen Falle eine wichtigen Sache zu sein. So macht er den Vorschlag, uns heute Nachmittag den Wagen zu schicken, um einen Ausflug nach dem reizend gelegenen Seebude, einem zu seinem Gute gehörigen Vorwerke, zu machen. Was sagen Sie dazu, Frau Helene?“

Ehe die junge Frau antworten konnte, tönte ein lang anhaltender, vielstimmiger Angstschrei vom Strande zu ihnen herauf. Helene erbleichte.

„Was war das?“ rief sie zitternd aus. „Da ist ein Unglück geschehen. Rosa – es ahnt mir – ist beim Baden tollkühn gewesen. O Doctor, eilen Sie, retten Sie sie! Ich werde Hülfe herbei rufen.“

Sie eilte dem Hause zu, während der Arzt behende die Strandtreppe hinabsprang. Unten empfing ihn ein erneuetes Jammergeschrei der Versammelten. Bei seinem Anblick stürzte die ganze Schaar der rathlosen Frauen ihm entgegen. Er wurde umringt und von hundert Stimmen zugleich um schleunige Hülfe und Rettung beschworen, während man in der Angst und Verwirrung ihm dennoch hindernd und jede freie Bewegung hemmend in den Weg trat. Mit einer kräftigen Armschwenkung, wie man sie dem rücksichtsvollen zartsinnigen Manne kaum zugetraut hätte, machte er sich frei und stürzte dem Strande zu. Hier war nicht zu zögern, wenn die Rettung nicht zu spät kommen sollte – mit dem ersten Blicke hatte er das erkannt. Hastig warf er den beengenden Rock von sich und eilte den schreienden Badefrauen zu Hülfe, die, bis an die Brust im Wasser stehend und selbst nur mühsam gegen den gewaltigen Anprall der Wogen ankämpfend, sich vergeblich bemühten, den über die Barrière hinaus Verschlagenen die Rettungsleine zuzuwerfen. Die beiden jungen Mädchen kämpften – das sah er sogleich – mit ungleichen Kräften. Er hatte Rosa gestern noch die Tochter von Rittern und Kriegern genannt; sie bewies jetzt, daß der Muth und die Kraft ihrer Vorfahren in ihr lebten. Die zurückrollenden Wogen rissen sie gewaltsam seewärts, aber kaum war ihr blonder Kopf aus einer über sie hinstürzenden Welle emporgetaucht, so sah man sie mit Muth und Besonnenheit danach ringen, der Barrière wieder näher zu kommen. Die Badekappe war ihr vom Haupte geglitten; ihr blondes Haar schwamm auf den grünglänzenden Wogen. Zuweilen war sie dem rettenden Taue schon so nahe, daß nur wenige Augenblicke hingereicht hätten, ihre sehnsüchtig ausgestreckte Hand dasselbe ergreifen zu lassen, aber erbarmungslos kamen die Wogen heran und fielen mit gleichmäßig sich hebendem und senkendem Geräusch auf den Strand nieder. Und mit jeder, die zurückrollte, wurde die Entfernung größer – Rosa's Bewegungen wurden schwächer und matter.

Während dieses harten Kampfes war Helene mit neuer Hülfe unten angelangt. Sie hatte den Bedienten nach dem Logirhause gesendet, und der Besitzer mit einer Schaar von Gästen war schleunigst zur Rettung herbeigeeilt. Vom Dorfe liefen auf die Schreckenskunde Fischer herzu; man lief hin und her mit Leinen und Stangen; Andere stürzten zu den Rettungsbooten. Doch schien es, als ob jede Hülfe zu spät kommen sollte. Rosa kämpfte zwar noch muthig fort, obgleich ihre Bewegungen unregelmäßig und unsicher wurden, ihre Gefährten aber schien den Kampf aufgegeben zu haben. Eine Woge rollte über sie fort, und die andere hob sie wieder in die Höhe. Man sah ihr bleiches Antlitz für einen Augenblick aus den grünen Wellen auftauchen – dann verschwand es wieder. Die unglückliche Mutter des jungen Mädchens stieß einen Schrei aus, der selbst das brandende Meer übertönte. Da tauchte aus den Fluthen noch einmal ein weißer Arm empor – dann rollte Welle um Welle heran, aber keine brachte ein Zeichen mit von dem jungen Leben, das augenscheinlich der Vernichtung anheimgefallen war.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die Delinquenten-Tax-Verkaufliste, wie sie alljährlich in den amerikanischen Blättern als öffentliche Anzeige figurirt, ist eine der vielen amerikanischen Eigenthümlichkeiten. Es ist dies eine Liste der unbezahlt gebliebenen Steuern auf Grundeigentum, mit genauer Angabe der Eigenthümer, wobei noch eine kurze Frist zur Bezahlung erlaubt ist, widrigenfalls das nicht versteuerte Object um jeden Preis versteigert werden kann, was jedoch nicht immer geschieht. Eine solche Veröffentlichung ist freilich für den Betreffenden nicht immer angenehm und ehrenvoll. Dabei sind aber die Steuern in Amerika nach dem letzten Bürgerkriege so hoch, daß man sich in Deutschland davon keinen Begriff machen kann. So z. B. muß in Newark (im Staate New-Jersey) jede männliche mündige Person, gleichviel ob Bürger oder nicht, fünf bis sechs Dollars Steuern bezahlen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Betreffende Arbeit hat und etwas verdient oder nicht. Die Stadtbehörden haben das Recht, den Nichtzahler verhaften und ihn seine Schuld abarbeiten zu lassen, wenn dieses Recht auch nicht stricte, sondern nur in einzelnen Fällen ausgeübt wird.

D.



„Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung mittelst photographischer Darstellung“ (Leipzig, Otto Spamer) betitelt sich ein sowohl für Fachgelehrte, wie für Laien berechnetes Werk von Dr. S. Th. Stein, welches auf streng wissenschaftlichem Wege und doch in gemeinfaßlicher Form die praktische Verwerthung der Wirksamkeit des Lichtes nachzuweisen sucht und diese Aufgabe in erfreulicher Weise löst. Den sämmtlichen Zweigen der Naturwissenschaft wird in diesem Buche eine Fülle nützlicher Beobachtungen als dankenswerthe Handhabe für die verschiedensten technischen Ausführungen geboten. Der Fachgelehrte findet in dem mit zwölf phototypischen und chromolithographischen Tafeln und einer großen Anzahl von Textillustrationen ausgestatteten Werke ein werthvolles Nachschlagebuch, der Photograph richtige Nachweise für die Technik seiner Kunst und der gebildete Laie Anregung und Belehrung nach mehr als einer Seite der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung hin. Möge dem Werke eine Bahn in weite Leserkreise geöffnet werden!




Kleiner Briefkasten.


Ch. D. in L. Das Nathusius’sche Blatt haben wir empfangen und danken Ihnen für die angenehme Unterhaltung. – Die Brehm'schen Vorlesungen werden in unserem Journale besprochen werden, sobald der bekannte Reisende sie zum Abschluß gebracht haben wird.

Eine Neugierige. Der in Ihrem Schreiben erwähnte Autorname ist uns völlig unbekannt.

W. „Die Tochter des Pfarrers“, obwohl recht ansprechend erzählt, können wir nicht verwenden. Verfügen Sie gefälligst über das Manuscript.

A. Bertrand in Hamburg. Die reclamirte Novelle ist nicht in unsre Hände gelangt.

S. H., T. S., Johannes M., E. E. 20, Paul Seehr in Straßburg. Ungeeignet und bis zum Eingang Ihrer Adresse zurückgelegt.

W. Sp. in ? Ehe Sie über die Incorrectheiten Anderer aburtheilen, wollen Sie gefälligst für die eigene Correctheit sorgen! Briefe ohne Datum und Ortsangabe abzusenden, hat wohl zu keiner Zeit für besonders „correct“ gegolten.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_108.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2018)