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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


vorbeipassirt war; dann schritt sie stumm und stolz aufgerichtet durch die Thür.

„Was war das?“ fragte das zurückbleibende junge Mädchen den Arzt. „Erlösen Sie mich, Herr Doctor. Ich bin ganz wirr im Kopfe. Mir war, als rede sie eine Sprache, die ich nicht verstehe, Kalmückisch oder Kafferisch. Ist es denn so schrecklich, daß Sie gestern mit Milli bei uns zusammengetroffen sind?“

„Haben Sie das der Frau Hornemann gesagt?“ lautete die etwas spöttische Gegenfrage.

Toni nickte.

„Nun – haben Sie schon einmal Ricinusöl genossen oder Leberthran getrunken? Nein, ich glaube nicht, mein Fräulein. Aber Sie wissen, daß Wermuth und Galle ausnehmend bitter sind. Sie Aermste haben der guten Frau eine tüchtige Dosis von beiden verabreicht. Aber ich möchte wissen, ob Ihr Herr Papa – ah, Herr Commerzienrath!“

Der Commerzienrath hatte aufgeriegelt und stand mit verstörtem Gesichte in der Thür.

„Laß uns allein, mein Kind!“

Urban nickte ihr zu und verschwand im Zimmer des Commerzienrathes.

Sie blickte ihm mit glänzenden Augen nach, und ihre Brust hob und senkte sich immer rascher, wie sie da stand, die kleinen Hände übereinander gelegt. Endlich holte sie tief Athem, wie Einer, der aus dem Traume erwacht. „Wie seltsam!“ sprach sie vor sich hat. „Er war noch drinnen. Warum hat er sich vor der Frau Hornemann eingeschlossen?“ Sie stand vor dem hohen, prachtvollen Trumeau und betrachtete sich darin mit einem stillen Seufzer. „Wie kann ich Jemandem gefallen – brrr!“ Und sie schüttelte sich. Der Chinese vor ihr nickte noch immer, und sie nickte endlich auch und gewann ihre Laune wieder. „Was hilft’s?“ meinte sie halblaut; „es scheint wirklich der Lauf der Welt zu sein: Was des Einen Glück ist, das macht dem Andern das Herz schwer, oder wie Johannes im Stalle sagte: ‚Fräuleinchen, Einer ist dem Andern sein Teufel‘; ja wohl, mein Herr Chinese, au revoir, mon bijou!“ Sie gab dem Pagoden noch einen Stoß und flatterte zum Zimmer hinaus.

Der Commerzienrath hatte inzwischen den eintretenden Arzt bei den Rockaufschlägen gefaßt. „Gott sei Dank, daß ich Sie bei mir habe, Doctor! Wenn Sie wüßten, welche Höllenqual ich ausgestanden habe! Ich hatte einen Anfall, einen kleinen Schlaganfall, glaube ich. Ich vermochte plötzlich nichts mehr zu sehen und empfand Stiche hier in der Seite.“

„Ah bah,“ sagte Urban ziemlich rücksichtslos. „Sie müssen ja natürlich hier ersticken bei den geschlossenen Fenstern.“ Er zog mit rascher Hand ein Rouleau nach dem andern empor und riß die Fensterflügel weit auf, daß die linde Sonnenluft einströmte. Dann betrachtete er den Commerzienrath, prüfte seinen Puls und lachte.

„Hypochondrie, nichts als Hypochondrie, werther Herr! Vielleicht eine kleine Leberaffection. Kein Gedanke an Sterben!“

„Lieber Doctor, ich bitte Sie dringend, die Sache nicht leicht zu nehmen,“ erwiderte der Fabrikant mit zweifelnder Aengstlichkeit. „Meinen Sie nicht, daß etwas Ernstliches geschehen muß? Daß ich vielleicht gut thue, in ein Bad zu reisen? Ich fürchte immer, es nimmt bei einem solchen Zufalle ein plötzliches Ende mit mir.“

Er setzte Urban einen Stuhl hin und nahm selber Platz. Jener besann sich.

„Wenn es Sie beruhigt – vielleicht würde eine Cur nichts schaden. Nur gebe ich Ihnen zu bedenken, ob Sie in dieser aufgeregten Zeit Ihre Fabrik verlassen wollen.“

„Nein,“ fiel ihm der Commerzienrath hastig in’s Wort; „Sie haben Recht. Wissen Sie auch, daß ich vorhin meinen Leuten in’s Gewissen geredet habe? Ich kann mich auf Bandmüller verlassen; er wird die räudigen Schafe schon zu rechter Zeit herausgreifen. Sie werden sehen, wohin es mit Ihrer Freiheit und Ihren Menschenrechten kommt.“

„Ereifern wir uns nicht über Politik! Sie dürfen sich heute keinesfalls aufregen. Machen Sie eine Spazierfahrt und nehmen Sie Fräulein Toni als Friedensengel mit sich! Steigen Sie ein wenig auf die Berge! Es wird Ihnen gut thun.“

Der Fabrikant sah unzufrieden aus, obschon seine Angst in der Gegenwart des Arztes so ziemlich verflogen zu sein schien.

„Doctor, ich habe das größte Vertrauen zu Ihrer Kunst,“ meinte er nach kurzem Besinnen. „Professor Mitterer hat mir sicher nicht ohne Grund gesagt, daß Sie sein bester Schüler seien, und das ist soviel, als wenn er gesagt hätte, Sie wären der Erzengel Raphael. Aber ich fürchte, Sie haben kein Herz für mich, keine Sorge um mich. Ich bin Ihnen gleichgültig, ein Patient, der Sie bezahlt. Ich wollte, ich hätte einen Sohn, der Ihnen gliche; ich gäbe wer weiß was darum.“

„Seien Sie zufrieden!“ sagte Urban, seltsam angemuthet von diesem Einfalle des hypochondrischen alten Herrn. „Sie haben einen so reizenden Arzt, einen wahren Specialarzt für Ihr Leiden im Hause, und ich wünschte nur, daß Sie sich mit vollem Herzen in seine Cur begäben; Sie errathen: ich meine Fräulein Toni. Uebrigens dürfen Sie auch meiner Theilnahme für Sie völlig vertrauen.“

„Ich wollte, wir wären wenigstens Parteigenossen; dann würden Sie mich vielleicht aus Nützlichkeitsrücksichten conserviren. Schlagen Sie ein, Doctor, kommen Sie zu uns in die Union! Sie wissen, wie man Sie dort aufnehmen wird.“ Und er streckte dem Arzte die Hand hin.

Dieser lachte: „Ei, so thun Sie doch besser, zu uns zu kommen, wie wir wünschen. Aber lassen wir das!“ fuhr er ernst fort, und sein Auge ruhte beobachtend auf dem Antlitze seines Gegenüber. „Bei Ihrem Leiden kann und muß ich Ihnen den dringenden Rath geben: entsagen Sie vorläufig auf ein halbes Jahr aller Politik! Weisen Sie Jeden ab, der Sie damit aufregen will, vermeiden Sie in die Union zu gehen! Ich stehe bei Ihrer nervösen Constitution für nichts.“ Er zog die Uhr. „Eine indiscrete Frage noch: ich fand soeben Frau Hornemann hier. Verkehrt die Mutter auch in Ihrem Hause wie die Tochter?“

Der Commerzienrath wurde ein wenig blässer, und seine Augen suchten verlegen umher. „O,“ sagte er endlich in dehnendem Tone, „wir verkehren in Geschäften miteinander.“

Der Arzt schied mit der Versicherung, er werde im Hofe das Anspannen bestellen. Er durchschritt rasch die Räume und stieß in einem der vorderen Zimmer auf Toni und die Tante, ein Fräulein von der Herberge, eine ältliche, würdige Dame mit grauen Locken an den Schläfen. Nachdem er die wortreiche Begrüßung der Letzteren mit ein paar scherzenden Worten abgefertigt, wandte er sich an Toni, welche mit einer zierlichen Reitpeitsche leise gegen das Kleid klätschelte und durch das Fenster in den Hof hinab sah.

„Wollen Sie eine Vorstellung in der Reitkunst und höheren Pferdedressur geben, Fräulein Toni?“ fragte er.

„Wie ungezogen!“ sagte sie und wandte sich um. „Gehen Sie nur! Es wartet gewiß schon Jemand auf Sie. Uebrigens werde ich Ihnen zum Tort ausreiten.“

Das Gesicht des Arztes war plötzlich ernst geworden, und er sagte fast rauh: „Das Reiten ist Ihnen nicht zuträglich heute. Ihr Herr Papa wird in einer Viertelstunde einen größeren Ausflug in’s Freie machen, und ich verordne als Hausarzt, daß Sie ihn begleiten. Ich habe die Ehre mich zu empfehlen, meine Damen.“

„Ist es nicht unerträglich, Tante, wie er mich behandelt?“ klagte Toni, als sein Schritt auf der Treppe erklang, und sie warf ihre Reitpeitsche in die Ecke. „Immer wie ein ungezogenes Kind.“

„Der Herr Doctor ist etwas sehr brüsk, liebe Antonie,“ erwiderte die Dame mit Würde, „aber diese Herren Aerzte haben das meist so an sich; ich versichere Dich, mein Engel, ich kenne sie.“

Toni drückte ihr Gesicht hart an die Scheiben und stand ein Weilchen, ohne sich zu regen.

„Was fehlt Dir, Antonie? Mein Himmel, Du zitterst am ganzen Körper!“

„Ach Tantchen, mein Herz!“ klang es mit unterdrücktem Schluchzen vom Fenster. „Ich glaube fast, daß ich krank bin.“

Unten kam der Doctor vom Stalle her und ging über den Hof, ohne sich umzublicken.




8.

Der Polizeicommissar Donner hatte seinen geduldigen Arrestanten im Stadtgefängniß untergebracht und war von da in seine Wohnung gegangen.

Die Blüthezeit der eigentlichen Demagogenfängerei war

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_110.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)