Seite:Die Gartenlaube (1877) 141.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 9.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Der Pascha nickte, und wie er die Flaschen betrachtete, welche so unscheinbar aussahen, da schmolz alle Härte auf seinem Gesicht; alles, was ihn im Augenblicke bekümmerte, verblaßte, und seine Züge verklärte ein Zug rührender Begeisterung. „Probire sie, Heinrich!“ sprach er; „wenn wir Zwei uns nicht betrogen haben, dann schlummern Wunder in diesen Gefäßen; ich wüßte nicht, was ich dem Recept noch zufügen sollte. Die Welt wird uns segnen. Das große Geheimniß des beschleunigten Stoffwechsels, der Massenausscheidung durch die momentan verzehnfachte Nerventhätigkeit, das wird die Unterschrift unter eine neue Zeitstufe unserer Therapie sein, und alle die kleinen Mittel, die mineralischen Bindemittelchen für den gefährlichen desorganisirten Stoff und die unzulänglichen Narkotica werden belächelt werden und in die Rumpelkammer wandern. Ich habe jeden Bestandtheil, der in diesen Flaschen enthalten ist, an meinem Leibe probirt, und ich schwöre auf die Wirkung.“

„Ich beneide Dich um Vieles, Karl, aber um diese Idee am meisten,“ sagte der Doctor aufrichtig. „Laß die Flaschen hier! Die Zeit wird nichts davon verderben; ich werde die Probe machen, sobald ich zurückgekehrt sein werde.“ Er schloß die Flaschen in einen Kommodenkasten, zog einen leichten Sommerrock an und griff zum Hute.

Auf der Straße draußen trennten sich die Beiden.

Die Luft war noch immer stechend heiß, und das Sonnenlicht färbte, wo es hintraf, tief gelb. Ueber dem Pflaster schwirrten hier und da kleine Staubwirbel empor wie neckische Kobolde, und einmal schlug ein nicht gehörig befestigter Fensterladen mit Heftigkeit so dicht vor Karl Hornemann zu, daß dieser aus seinen Gedanken aufschrak und zum Himmel aufsah, wo die weißlichen Wolkenballen eines Gewitters eben über die Dächer heraufschwebten.

Er verließe das Trottoir und ging auf dem Fahrwege weiter, indem er seine Schritte beschleunigte. „Ich fürchte, ich fürchte!“ murmelte er. „Wenn mir diese Erfahrung erspart bliebe, wenn ich mich doch täuschte, ich wollte die Vorsehung preisen.“

Und das Herz Karl Hornemann's, welches so weich und voller Liebe war, that ihm weh, wenn er an die Schwester dachte, die seine innigste Vertraute war, der er keinen Gedanken oder Plan verhehlte, welcher ihn beschäftigte, und auf die jetzt der Schatten seiner trüben Vermuthungen fiel. War es möglich, daß sie doch hinter seinem Rücken ein heimliches Spiel spielen konnte, daß sie im Stande war, ihn zu verlassen um Urban's willen? „Freilich, sie ist heißblütig und willenskräftig,“ so antwortete er sich selber; „Liebe ohne Glück – wer sie kennt, der weiß, wie schwer ihr zu entsagen ist.“ Und der wunderliche Kauz seufzte und blinzelte mit den Augen, in welche der böse Wind den Staub trieb. „Ich hoffe, daß ich nicht zu spät komme; ich will sie doch schützen vor sich selber, wenn ich es vermag.“

Er ging über den alten Markt, auf dem ein paar Obsthändlerinnen mit flatternden Kleidern in der Eile ihre Früchte zusammenräumten, und weiter den Canal hinunter. Das Wasser drunten flimmerte, denn der Wind staute die Wellen zurück, und es sah dunkel aus von den Wolken, die über ihm zogen. Die Straßen verfinsterten sich rasch; die Sturmgeister wühlten in den Gewittermassen und schleuderten Fetzen davon zur Seite. Endlich war er beim Hause der Mutter angelangt, welche er im Laden stehend fand. „Es ist gut, daß Du kommst, Karl,“ sagte sie; „ich bin allein zu Hause, und es muß doch Jemand hinauf gehen und nach den Fenstern sehen. Emilie ist ausgegangen.“

„Lassen Sie die Fenster, Mutter, und sagen Sie mir, wohin sie gegangen ist!“ antwortete Karl Hornemann und sah so verstört aus, daß es die alte Frau bemerken mußte.

„Was ist Dir, daß Du so hastig fragst? Sie wollte nur zu Anna in den Wiedenhof hinüber springen.“

„Bleiben Sie noch einen Augenblick!“ meinte der Pascha. „Ich muß jedenfalls wissen, ob sie drüben ist.“ Und fort war er. Er kam über den Steg hinüber in das Hôtel und stieß im Hausflure auf den Wirth. „Ist Emilie hier, Vater Schoner?“ fragte er. „Sie soll zu Ihrer Anna gegangen sein.“

„Ich weiß es nicht, Karl; Sie müssen hinauf gehen und die Weibsleute fragen.“

Karl Hornemann eilte die Treppe hinauf; er nahm immer zwei Stufen auf einmal, und der Wirth blickte ihm erstaunt nach. Ein paar Minuten später kam er wieder herunter, noch eilfertiger als vorher.

„Haben Sie die Mädchen gefunden?“ fragte der alte Schoner.

„Gleich!“ erwiderte der Pascha und rannte, ohne ihn anzusehen, vorüber. Ueber den Steg mußte er langsam gehen, und man sah ihm die Ungeduld dabei an. Dicke Tropfen standen auf seiner Stirn, als er auf's Neue vor seine Mutter trat, und doch zauderte er das zu sagen, was er zu sagen gekommen, und stand da, an den Lippen nagend und mit unruhigen Augen. „Mutter,“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_141.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)