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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


zuweilen ein auflodernder Affect heller färbte, hatte sie gesprochen, von Zeit zu Zeit erstickt durch das Dröhnen der Gewitterschläge und mit dem Auge blinzelnd, wenn der Blitzschein über die alten Möbel fuhr. Es rieselte und plätscherte auf der Straße wie eine Sündfluth, während sie das Büchelchen auf dem Tische aufschlug. Sie wollte es eben der Tochter hinlegen, als ihr Blick auf einen Namenszug fiel, der sie plötzlich veranlaßte, es wieder zu schließen.

Emilie hatte wie im Traume gesessen und zugehört; sie schien völlig theilnahmlos und starrte vor sich nieder. Unheimlich stumm saßen die beiden Frauen noch eine Weile; das junge Mädchen schauerte ein paar Mal zusammen in der nassen leichten Kleidung. Endlich kam Bewegung in den starren, schönen Körper, und sie sagte tonlos: „Ich werde Zehren heirathen, Mutter.“

„Gott segne Dich, meine Tochter! Jetzt danke ich Karl doppelt, daß er mir den Weg in das Rottmann’sche Haus gezeigt.“

„Karl? Das hat Karl gethan?“ fuhr Emilie in tiefer Bitterkeit heraus. „Der liebe, treue Karl! Ich will keinen Brautstand, Mutter. Wir müssen so bald wie möglich heirathen, und ganz heimlich; wenn ich erst seine Frau bin, dann ist Alles abgeschnitten, Alles – Alles –“

Sie glitt vom Sopha auf die Kniee nieder und brach in einen Strom von Thränen aus, indem sie das Gesicht zwischen die verschränkten Arme in das Polster barg. „Gott, Gott,“ schluchzte sie, „warum hast Du mir das gethan?“ –

Der Doctor Urban wartete eine Stunde, dann ließ er die Droschke zu seiner Wohnung zurückfahren, um die Sachen wieder abzuliefern. „Kommen Sie nur mit, Anna!“ sagte er. Und die Beiden gingen den Umweg zum Eingange des Hôtels auf der Canalstraße, aber der Doctor warf keinen Blick auf das Haus gegenüber, bis er droben im Gastzimmer war. Dort setzte er sich in's Fenster und spähte in bittrem Unmuthe und Grolle, bis der Regen aufhörte und das Gewitter sich verzog. Allein er konnte an keinem Fenster der Hornemann'schen Wohnung ein Gesicht wahrnehmen. Zuletzt ging er nach Hause. Kurz darauf kam Karl Hornemann in das Zimmer und fragte nach Anna; sie sprachen ein paar Minuten zusammen, und die arme kleine Anna war tiefroth vor Scham. Dann ging auch der Pascha.

Drüben wollte er sein Zimmer aufsuchen, ohne die Frauen zu sehen, aber als er in die Nähe von Emiliens Stube kam, trat ihm diese aus der Thür entgegen. „Bist Du es, Karl?“ fragte sie mit müder Stimme. „Ich wollte Dir nur sagen, daß ich Franz Zehren heirathen werde und daß Du mich – verloren hast, Karl.“

In seinem Gesichte zuckte es wunderlich. „Hier ist Deine Schleife, Milli,“ sagte er weich. Sie nahm die Schleife, ohne ihn anzusehen, und der Pascha starrte ihr mit trübem Kopfschütteln nach, als sie hinter der Thür verschwand.




10.


Das tägliche Leben im alten Eckhause auf der Canalstraße nahm seit dem entscheidungsschweren Tage einen ziemlich unerfreulichen Charakter an. Milli Hornemann war eine Fremde geworden. Sie erschien nicht mehr, wie sonst wohl in der letzten Zeit, zerstreut, unthätig, leidenschaftlich heftig und wieder verweint. Gleichmäßig ernst und wortkarg widmete sie sich mit der peinlichsten Sorgfalt häuslichen Pflichten, fragte und antwortete, wenn sie mußte, ohne sichtliches Ausweichen, aber auch ohne irgend welches erkennbare Interesse. Es kam dann und wann vor, daß sie lächelte, aber ihr Lächeln hatte etwas Automatenhaftes, Seelenloses und verschwand plötzlich ohne Uebergang in dem eintönigen Grau ihrer gewöhnlichen Stimmung. Ihre Mutter versuchte wohl, von ihr Wünsche in Bezug auf eine Aussteuer zu erfahren, aber vergeblich; sie nahm ohne Aeußerung einer Freude oder Mißbilligung hin, was die Mutter oder der Bruder besorgten. Als eine Näherin in’s Haus genommen wurde, veranlaßte sie, daß dieselbe oben auf ihrem Zimmer arbeitete, und setzte sich in jeder freien Minute, die sie erübrigen konnte, zu ihr, um ihr zu helfen. Sie brachte auch die Abende mit Nähen zu und verriegelte, sobald sie allein war, die Thür. Sie wandelte wie ein Schatten über den frischen Gräbern ihrer Wünsche. – –

Zehren war noch vierzehn Tage nach der zu seinen Gunsten eingetretenen Wendung unterwegs; endlich theilte er Karl Hornemann mit, daß er im Begriffe stehe zurückzukehren. Er hatte noch keine Ahnung von dem, was geschehen war; die Zeilen athmeten das heroische Feuer der Entsagung, untermischt mit ergreifenden unwillkürlichen Herzenslauten einer tiefen Leidenschaft, und schlossen mit der Bitte an den Freund, die Mutter so vorzubereiten, daß es nur seiner warmen Fürsprache bedürfe, um sie der Verbindung Emiliens mit dem Doctor günstig zu stimmen. Der Pascha gab der Schwester den Brief zu lesen, ohne ein Wort hinzuzufügen, und sie nahm das Schreiben etwas verwundert. Ueber dem Lesen erblaßte sie und verließ, mit dem Blatte in der Hand, die Stube.

Als sie den Bruder später wiedersah, gab sie ihm den Brief zurück und sagte kühl: „Es ist unnütz, jetzt noch Maskerade zu spielen; ich werde seine Gattin werden auch ohne solche Gaukeleien.“

Der Pascha erwiderte ruhig: „Ich verpfände meine Ehre dafür, daß nicht ein einziges Wort in diesen Zeilen erheuchelt ist.“

Sie sah ihn groß an und wandte sich schweigend ab. Kurz nachher äußerte sie gegen ihre Mutter den Wunsch, die nächste Zeit in der Stille der „Erlenfuhrt“ bei einer alten Tante zuzubringen; dort wollte sie auch mit Zehren zum ersten Male wieder zusammentreffen, fern von den alten Verhältnissen. Die Mutter, welche von dem Wechsel der Umgebung und dem Einfluß einer ländlich friedlichen Natur Günstiges hoffte, und froh war, Emilie überhaupt einen Wunsch gewähren zu können, sagte ohne Zögern zu, und einen Tag später schon trug der Wagen diese die Thalkrümme des Flusses entlang, an welchem in einer Entfernung von kaum zwei Stunden die einsame Erlenfuhrt lag.

Schmerzlicher, als er äußerlich zeigte, litt Karl Hornemann unter der Entfremdung und Kälte, welche die trotzige Schwester ihm seit dem vereitelten Fluchtversuche bewies. Nicht ein leises Zeichen deutete ihm an, daß diese Mauer, welche sie gegen ihn zog, ein mühsam künstliches Werk sei, eine Coulisse, welche die hinter ihr weiter lodernde Liebe einst in plötzlichem Ansturm zerstören könnte. Und doch war es unmöglich, daß die frühere Innigkeit ihrer Beziehungen zu dem Bruder mit einem Schlage auf den Gefrierpunkt hinabgesunken war. Der Pascha machte keine Annäherungsversuche, denn er kannte die Willensstärke seiner Schwester zu gut, um zu wissen, daß vorläufig an ihrer Haltung ihm gegenüber nichts zu erschüttern war. Aber er hatte sich weniger in der Gewalt als sie; mehr als einmal ertappte er sich auf dem Wege zu ihrem Zimmer, wenn ihn eine Idee, eine Nachricht lebhaft beschäftigte, bis er sich rechtzeitig besann und wie beschämt umkehrte. Dann saß er in seiner Stube zwischen Briefen, Rechnungen, Waarenproben und den Apparaten seiner Privatliebhabereien, und das Herz that ihm weh, als ob ihm etwas Liebes gestorben wäre.

In ihrer Gegenwart war er solchen Zerstreutheiten weniger ausgesetzt; ihre erzwungene Schweigsamkeit hatte etwas Lähmendes für ihre Umgebung. War er daheim, so empfand er den Trieb auszugehen und der drückenden Luft, welche überall in dem alten Hause lag, zu entfliehen, und kaum war er draußen, so trieb es ihn mit unbezwinglicher Sehnsucht wieder in ihre Nähe. Es war fast etwas Bräutliches in dieser Liebe zu der schönen Schwester. Er besaß ein Miniaturbild von ihr, welches freilich weder die feine, reizvolle Ausmeißelung ihrer Züge und die wunderbare Zartheit ihrer Farben, noch die eigenthümliche Mischung von herber Kraft und gedämpftem Feuer vollkommen wiedergab, von welcher die braunen Augen unter den hochgewölbten Brauen sprachen. Aber er setzte sich davor, und sein Herz wallte über, und seine Selbstanklagen erdrückten eine innere Stimme, welche behaupten wollte, daß er dennoch recht gehandelt habe. Er war wirklich ein Schwärmer, der Volkstribun aus dem Wiedenhofe.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_144.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)