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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


den Ernst seiner Worte hätte in Zweifel bleiben können. „Mein Gott,“ sagte sie, tief Athem holend, „wie ist das möglich?“ Und sie warf die Arbeit auf das Nähtischchen und legte beide Hände im Schooße zusammen. „Wer ist denn dieser Herr Zehren? Ich kennen ihn gar nicht. Ist er mit dem alten Zehren verwandt, der am Canal wohnte und vor einem Vierteljahre gestorben ist?“

„Sein Neffe und Erbe, der vor ein paar Wochen aus Amerika nach Europa gekommen ist, um mich unglücklich zu machen, und der obendrein taub ist. Aber lassen wir ihn! Was nützte es, wenn ich vor Ihnen jetzt meinen ganzen Vorrath von Galle über ihn ausschütten wollte! Es handelt sich für mich um das Eine: ich muß Emilie noch einmal sprechen, bevor ich sie verloren gebe für alle Zeit. Ein Abschiedsbrief beweist nichts; erst wenn sie den Muth hat, mir Auge in Auge zu sagen: 'Leben Sie wohl, mein Herr!' dann weiß ich, daß ich geopfert bin. Und Sie, Fräulein Toni, sind die Einzige, welche mir zu einer Zusammenkunft mit ihr verhelfen kann. Wenn sich in Ihrem glücklichen Kinderherzen ein Funke von Theilnahme für mich regt, so bewirken Sie eine solche! Da haben Sie meinen Wunsch.“

Er hatte sich bei den letzten Worten zu ihr hinüber geneigt und ihre Hand ergriffen, die er leidenschaftlich drückte. Ihr Blick streifte den seinen, der unruhig drängend auf ihrem roth übergossenen Antlitze haftete, und sie schlug in reizender Verwirrung die Augen nieder und wandte sich dem Fenster zu. Einen Moment war es still zwischen ihnen. Draußen grünte und blühte der Garten; der Amor blitzte von fern zwischen den Linden hindurch, und über der Berglehne im Hintergrunde stieg das leuchtend tiefe Sommerblau des Himmels auf. Sie wußte nicht, wie ihr zu Muthe war, halb zum Lachen und halb zum Weinen. Der Doctor sah es, wie ihre junge Brust sich beklommen hob und senkte, und es überkam den unbekümmert Sieggewohnten eine leise Ahnung von dem heimlichen Leben in dieser Brust. Aber sie gewann rasch ihre ganze Unbefangenheit wieder; sie stützte den Arm auf das Fenster, legte den Kopf in die Hand und sah ihn mitleidig an.

„Ich glaube wohl, daß Sie mir nichts vorflunkern, denn Sie machen ein gar zu trauriges Gesicht dazu. Ich will auch gern mit Emilie reden, schon weil ich nicht begreifen kann, wie –“

„Um Gottes willen,“ unterbrach er sie hastig, „sagen Sie ihr kein Wort vorher – ich muß unerwartet mit ihr zusammentreffen. Das bringt mich ja eben zur Verzweiflung, daß ich nicht einmal wissen soll, warum das Tuch zwischen uns mit einem Male zerschnitten sein soll. Jeder Mensch, den man hinrichtet, erfährt doch vorher wenigstens in Form Rechtens, aus welchen Gründen man die Nothwendigkeit ableitet, ihn einen Kopf kürzer zu machen, aber sie will mich nicht sprechen – hören Sie, Fräulein Toni, sie will nicht.“

Toni sah ihn zweifelnd an. „Sie wird Ihnen wohl zutrauen, daß Sie ohnedies Bescheid wissen. Was soll ich denn aber thun? Soll ich sie herlocken und dann von Ihnen überfallen lassen? Dazu habe ich sie eigentlich zu lieb; ich weiß wirklich nicht, warum ich mich Ihrethalben um meine liebste Freundin bringen soll."

Er sank mit finsterer Entschlossenheit vor ihr nieder – vielleicht nicht ganz ohne Berechnung. „Ich bleibe hier liegen, bis Sie mir versprechen, es dennoch zu thun, oder bis man mich mit Gewalt von Ihren Füßen hinwegreißt –“

Sie blickte ängstlich zu ihm nieder, während er wiederum ihre Hand gefaßt hielt. „Ja doch, meinethalben denn! Ich will einmal horchen, wie Alles gekommen ist, und wenn Sie unschuldig sind, so werde ich Ihnen den Willen thun – wenn auch –“ ihre Blicke suchten unsicher und feuchtglänzend die Höhe des Zimmers – „aber nun stehen Sie auf – um Gott, es kommt Jemand –“

Während Urban ihr die kleine feine Hand küßte, sagte es plötzlich in der Thür: „Sieh da! Was hat denn das zu bedeuten?“

Es war der Commerzienrath, der mit etwas verdutztem, aber nicht gerade unwilligem Gesichte näher trat. „Machen Sie meinem Kinde eine Liebeserklärung, Doctor?“

„Nein; der Doctor ist schon heimlich verlobt, Papa," sagte Toni eifrig, „und Verlobte machen andern Mädchen niemals Liebeserklärungen.“

Urban erhob sich und wischte nachlässig über die Kniee. „Halten Sie es für möglich, Herr Commerzienrath, daß Ihr liebenswürdiges Fräulein Tochter sich so lange trotzig geweigert, mir den Namen ihrer Schneiderin zu nennen, bis ich kniefällig darum gebeten habe? Und ich Unglücklicher habe einer Dame mein Wort verpfändet, daß ich ihr denselben verschaffen würde; was blieb mir übrig, als meine Beinkleider für das leichtsinnige Versprechen büßen zu lassen?“

„Nun denn einmal heraus mit dem Namen, Doctor,“ fragte mit etwas boshaftem Lächeln der Commerzienrath, indem er Urban scharf in's Gesicht blickte. Ehe indessen Urban Zeit hatte in Verlegenheit zu gerathen, übernahm Toni die Antwort.

„Fräulein Engelhardt, Papa!“

„In der That. Fräulein Engelhardt. Damit wäre der eine Zweck meines Besuches erreicht, und es bleibt mir noch übrig, das Krankenzimmer Ihrer Schwägerin aufzusuchen. Ich habe ihr zwar oft genug gesagt, daß ich ihr nichts helfen kann, ausgenommen, daß ich ihr das alte Recept noch einmal schreibe, aber Frauen bleiben immer die nämlichen; ihre kranken Seelchen werden ruhig, wenn der Pfarrer, und ihre kranken Leiber, wenn der Arzt in’s Zimmer tritt.“

Der Commerzienrath zog die Stirn kraus. „Ihr Aerzte seid ein ungläubiges Geschlecht. Aber ich hoffe, die Wiedergeburt wird auch noch an Sie kommen. Apropos, bevor Sie uns verlassen, kommen Sie wohl noch einmal auf mein Zimmer, Doctor; ich möchte Sie etwas fragen.“

Urban nickte und ging hinaus.

Der Commerzienrath schritt bei Toni vorüber, kehrte aber auf dem Wege wieder um und fragte die erröthende Tochter ernsthaft: „Habt Ihr wirklich nur einen Possen mit einander gespielt, mein Liebling?“

„Papa, dränge mich nicht – ich bitte Dich; er hat mir etwas anvertraut, was ich für mich behalten muß. Es geht seine Braut an.“

„Also er ist wirklich verlobt? Jedenfalls im Stillen blos. Heißt seine Braut etwa Emilie Hornemann?“

Toni sprang auf und fiel ihm um den Hals. „Es ist unausstehlich, wenn ein Mensch so klug ist. Adieu, Papa – ich fürchte mich vor Dir –“ damit eilte sie aus dem Zimmer.

Urban fand zu seinem Verdrusse ihren Platz am Fenster leer, als er zurückkam. Er ließ sich einen Augenblick auf ihrem Stuhle nieder und betrachtete die Stiche an ihrer Arbeit; dann verließ er die Fensterecke und verfügte sich zum Commerzienrath, der ihn mit sorgenvoller Miene empfing.

„Setzen Sie sich einmal zu mir, Doctor! Was halten Sie von der – Cholera? He? Wissen Sie schon, daß sie wieder in Rußland auftritt, und daß sie auch in zwei englischen Häfen eingeschleppt ist?“

„Ich glaube gar, Sie fürchten sich schon jetzt vor ihr, mein Herr Commerzienrath?“ fragte Urban halb erstaunt, halb ärgerlich. „Ich denke, wir warten damit, bis uns dieser menschenfressende Moloch erst näher auf den Leib rückt.“

„Wieviel Procent der davon Befallenen sterben wohl ungefähr? Aber antworten Sie mir vernünftig, Doctor! Ich fasse die Sache sehr ernst.“

„Nun, etwa achtzig, nach den bisherigen Erfahrungen.“

Der Commerzienrath biß sich in die schmale Unterlippe und wiederholte für sich: „Achtzig Procent! Es ist entsetzlich. – Und keiner Seele ist es gelungen, das Geheimniß dieser gräßlichen Seuche zu ergründen?“ fügte er laut hinzu.

„Keiner,“ lautete die lakonische Antwort. „Nur daß der große Hahnemann die Heimtücke mikroskopisch kleiner Bestien dahinter wittert, die er mit Moschus vergiftet. Ich kann Ihnen keinen Trost im Augenblick weiter geben, als daß wir vorläufig noch weit vom Schuß sind und daß eine Anzahl Fachleute im Begriff steht, das Leben daran zu wagen, um das Ungeheuer in seiner mörderischen Beschäftigung zu studiren. Vielleicht beruhigt es Sie auch, wenn ich Ihnen versichere, daß dasselbe vor Leuten von Ihrer Constitution einigen Abscheu zu bezeigen pflegt, und daß ihm die Blume eins guten Bordeaux zuwider ist. – Darf ich mich empfehlen?“

Der Fabrikant sah den Arzt sichtlich ungern scheiden. Er begann eine kurze Wanderung im Zimmer, das Haupt tief in die breite schwarze Cravatte gesenkt, und das unruhige Muskelspiel

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_174.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)