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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


seines Gesichtes spiegelte die beängstigenden Bilder wieder, welche vor seiner erregten Phantasie vorüberflogen. „Achtzig Procent!“ murmelte er. „Der erfinderische Menschengeist ergründet jeden Tag Geheimnisse und schafft Wunder über Wunder, und hier steht er rathlos. Warum? Warum hier gerade, wo die Natur bebend sich vor dem Entsetzlichen windet und die Hände hülfeflehend zum Himmel streckt? Soll es nicht sein? Ist es der Teufelsodem der Hölle, der hämisch mordend die Seelen einheimst und welchem Macht gegeben ist über tausend mal tausend?“ und der kleine alte Mann mit dem harten Gesicht schauerte zusammen und nahm ein Buch voller Zahlen zur Hand, um sich zu zerstreuen.

Inzwischen war Urban die Treppe hinabgestiegen. Im Hausflur unten befand sich rechter Hand die Wohnung des Kutschers Johannes, dessen Frau Portierdienste that; die Leute lebten allein; denn ihre Kinder waren sämmtlich bereits selbstständig geworden. Lautes Lachen drang durch die braungestrichene Thür, und es war dem Lauscher, als höre er Toni’s frische Stimme deutlich heraus. In diesem Moment ging die Thür auf, und das Stubenmädchen trat Urban mit verdrießlichem Gesicht entgegen. Hinter ihr aber erfaßte sein rasches Auge eine seltsame Gestalt in der Stube drinnen, eine schlanke, zierliche Figur mit rabenschwarzen losen Flechten, die sich unter einem rothen Kopftuch hervorstahlen; er gewahrte ein grobes braunes Wollenkleid mit kurzem Rock und zwei braune Füßchen darunter, welche bis auf ein paar alte gestickte Hausschuhe nackt waren. Halb verdeckt von dieser Gestalt stand Toni; ihr Gesicht bog sich seitwärts, und ihr lachender Blick, welcher dem davon eilenden Mädchen folgte, fiel auf Urban. Dieser harmlos glückliche Blick hatte – er wußte nicht recht warum – plötzlich etwas Verletzendes für ihn. War es darum, weil ihn selber tiefste Unruhe peinigte, weil es in seinem eigenen Kopfe so ungestüm arbeitete, während in seiner Brust zugleich die Empfindungen mit einander in Hader lagen? Oder weil sie wußte, wie es um ihn stand und dennoch lachen konnte? Es wandelte ihn eine verdrießliche Lust an, etwas zu stören, und er ging an dem Mädchen vorüber in das Zimmer.

„Was ist denn das für eine Mummerei?“

Ein schmales, braunes Gesicht, jugendlich und fremdartig, wandte sich mit einem rasch verschwindenden Ausdruck von Befangenheit nach ihm um; ein paar große, ernste, tiefschwarze Augen hafteten auf den finstern Zügen des schönen, stattlichen Mannes, und zwischen den feinen schmalen Lippen der Zigeunerin – denn eine solche stand vor ihm – blitzten zwei Perlenschnüre von Zähnen auf.

„Was haben Sie mit dieser braunen Hexe zu schaffen, Fräulein Toni?“ fuhr Urban unfreundlich fort. „Nehmen Sie Ihre Uhr da in Acht und was sonst nicht fest an Ihnen sitzt! Dieses Volk hat kein Verständniß für den Unterschied von ‚mein‘ und ‚dein‘, und die jungen Weiber besonders sind wahre Elstern.“

Die Zigeunerin senkte langsam die Wimpern und sagte mit wohlklingender Stimme: „Ich stehle nicht, schöner Herr. Es giebt Leute in unserem Volke, die nehmen was sie wollen, und es giebt andere, die verdienen was sie brauchen. Schelten Sie nicht, lieber junger Herr! Unsre Männer fangen wohl Fische und Feldthiere, aber – –“

„Bist Du verheirathet?“ unterbrach Urban sie mit Härte, während er heimlich das wunderbar regelmäßige, sammetweiche Gesicht musterte, dessen geröthete Wangen an Flammenschein mahnten, welcher braunen Rauch überglüht.

„Nein,“ sagte das Mädchen, die Augen noch immer zu Boden gesenkt.

„Wo sind Deine Leute? Und wie viel Personen seid Ihr zusammen?“

„Vater, Mutter, ein großer und kleiner Bruder und zwei kleine Schwestern, lieber Herr, Niemand weiter. Wir haben einen Wagen und ein Pferd, die Dascha, und noch zwei kleine Hunde. Sie lagern neben der alten Schmiede, wenn man die Straße hinaus geht, rechts, da, wo der Berg einbiegt.“

„Warum läufst Du allein in der Stadt herum?“

„Meine Mutter liegt im Wagen und ist krank.“

„Da müssen Sie helfen, Herr Doctor,“ rief Toni mit Feuer; „Sie machen den Gang umsonst, und ich bezahle die Arznei.“

„Mein liebes Fräulein,“ meinte Urban trocken, „diese Art wird entweder ohne Arznei gesund, oder sie ist überhaupt nicht zu retten. Was will das Mädchen hier? Betteln?“ Er blickte sich jetzt erst in der Stube um, als er vom Fenster her das unarticulirte Gebrumm des Kutschers Johannes vernahm, und nickte diesem und seiner Ehehälfte zu, welche letztere, neben einem andern weiblichen Dienstboten des Hauses stehend, scheue Blicke auf die Fremde warf.

„Sehen Sie nur die dort,“ lachte Toni, nach dem Fenster zeigend; „es ist ihnen übel geworden, denn sie können das Prophezeien nicht vertragen. Geben Sie einmal Ihre Hand her, Herr Doctor!“ meinte sie, indem sie sich ohne Umstände seiner Linken bemächtigte; „ich bitte mir aus, daß Sie still halten, denn“ – fügte sie leise warnend hinzu – „Sie wissen, daß Sie in meiner Gewalt sind.“

„Nun wohlan, Sie kleine Commandeuse!“

Toni hielt der Zigeunerin die innere Fläche der Hand unter die Augen. Diese warf nur noch einen flüchtigen Blick auf das Antlitz des Mannes vor ihr, einen geheimnißvollen Sibyllenblick, den Urban auffing; ihre Mundwinkel senkten sich ernsthaft, und dann neigte sie sich und studirte die Linien, daß jener ihren warmen Hauch auf seiner Hand fühlte. Aus der leisen Bewegung ihres Kopfes konnte man wahrnehmen, daß in ihrer Beobachtung Methode lag. Der junge Mann hielt schweigend aus und blickte inzwischen auf Toni herab, welche ihr Antlitz mit lebhafter Neugierde bis dicht vor seine Brust herab beugte; er athmete den feinen Duft ihres Haares und sah in nächster Nähe das Blut durch ihr kleines Ohr schimmern.

„Viel Unglück im Glück und viel Glück im Unglück,“ murmelte das Mädchen und trat endlich mit einem tiefen Athemzuge zurück.

„Ist das Alles?“ fragte Urban, der die Worte verstanden hatte.

„Gott bewahre!“ rief Toni lebhaft; „sie sagt Ihnen eine ganze Litanei von Schicksalen, alles was da war, ist und sein wird. Es wird gleich kommen.“

Die schwarzen Augen des jungen Geschöpfes waren starr geworden, und sie stand einen Augenblick ohne sich zu bewegen. Urban, der sie scharf beobachtete, fand heraus, daß sie entweder sehr geschickt Komödie spielte, oder an ihre Pythia-Rolle glaubte. „Hüten Sie sich vor dem kleinen Wasser, Herr!“ meinte sie endlich nachdenklich. „Nur das große wird Ihnen nützlich sein. – Ich sehe nicht viel Gutes für Sie in der nächsten Zeit; es drohen Ihnen auch Waffen. – Es stehen Frauen an Ihrem Lebenswege; die Sie suchen, finden Sie nicht, und die Sie finden, kommen Ihnen ungesucht. – Schöner Herr,“ unterbrach sie sich plötzlich; „ich habe heute zwei Mal dieselbe Lebenslinie gesehen. – Sie werden alt werden, und ihr Haar wird sich bleichen, aber in Frieden. – Ich sehe Metalladern, die in Ihren Lebensweg münden; die eine ist sehr reich. – Ein weißer Schwan wird Sie zum Glücke führen –“

„Dasselbe hat sie mir auch gesagt,“ fuhr Toni heraus.

Die Zigeunerin wandte sich plötzlich um, und ihre Blicke schweiften zwischen Urban und dem blühenden, lächelnden Mädchen neben ihm hin und her.

„Wie heißt Du?“ fragte Urban.

„Juschka,“ war die zögernde Antwort.

„Vortrefflich, kleine Juschka,“ fuhr jener kühl fort, indem er seine Börse zog; „Du bist gnädig mit mir umgegangen, und Du sollst Dich in Deiner Berechnung nicht getäuscht haben, daß ich alsdann auch mit Dir gnädig umgehen würde.“ Er nahm einen Thaler zwischen den Maschen heraus und reichte ihn dem Mädchen. Die Zigeunerin kreuzte die Arme über der Brust und verneigte sich tief; dann bückte sie sich, wie um zugleich den Thaler zu nehmen und ihm die Hand zu küssen, aber im nämlichen Augenblicke, wo er das Geld zwischen seinen Fingern hervorgezogen fühlte, empfand er einen heftigen Schmerz an der Hand; die Zigeunerin wand sich wie ein Aal zwischen ihm und Toni hindurch und verschwand durch die Thür, und von der Thür her erscholl ein Klirren auf dem Fußboden: es war der Thaler, welcher unaufgehalten bis mitten in die Stube rollte.

Der Doctor, welcher ein kurzes Zischen des Schmerzes nicht hatte unterdrücken können, war mit einem Sprunge am Fenster; er kam noch zeitig genug, um die geschmeidige Figur der braunen Juschka drunten von der Treppe nieder in den Hof fliegen zu sehen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_175.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)