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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 12.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


„Das ist erstaunlich,“ meinte Urban kopfschüttelnd. „Aber,“ fuhr er plötzlich lebhaft fort – „hören Sie, Donner – ich habe noch eine zweite Idee. Ich werde ein wenig für Sie spioniren. Sie können sich nicht so ungefährdet unter diese Leute mischen wie ich, und thäten Sie es wirklich, so erführen Sie wahrscheinlich doch nicht viel. Ich empfinde die größte Lust, einmal den Demokraten zu spielen. Meinethalben könnte ich die Möglichkeit eines Unfalles in dem Gedränge zum Vorwand gebrauchen, um mich den Herren als Arzt aufzudrängen. Was meinen Sie?“

Der Commissar blickte den dienstfertigen Begleiter argwöhnisch von der Seite an; dann spielte einen Moment ein listiges Lächeln um seinen Mund.

„Ich würde es an Ihrer Stelle unterlassen. Es konnte Ihrem Rufe schaden.“

„Ich will Ihnen nur gestehen,“ sagte der Arzt nach einigem Zaudern, „daß ich auch ein wenig meine Praxis im Auge habe, wenn ich es thue. Ich habe mit Leuten, welche den Wiedenhof besuchen, ziemlich viel zu thun, mit solchen, die zur Union gehören, sehr wenig. Und daß unter den Gästen des Wiedenhofes die schlimmsten Demagogen stecken, wissen Sie ja auch, obschon es schwer hält, sie heraus zu finden.“

Donner hielt an. „Ich muß in das Haus hier treten,“ sprach er.

„Ich werde mir die Sache ansehen, Commissar; wenn es etwas einbringt, so will ich gern bis an das Ende des Trubels in meinem und Ihrem Interesse den Demokraten heucheln. Sie sollen einen Bericht bekommen, den Sie sofort zu den Acten nehmen können.“

„Nun, gut,“ murmelte der Commissar hinter dem Weiterschlendernden drein; „aber wir wollen Dich ein wenig genauer in's Auge fassen, Freundchen, nur endlich zu erfahren, wie wir mit Dir daran sind.“

Urban hatte nicht minder seine Nachgedanken, als er dem Beamten den Rücken wandte. Er fühlte sehr wohl, daß das Vertrauen Donner’s in ihn stark erschüttert war. Vermuthlich wäre ihm das sonst gleichgültig gewesen. Aber er erblickte in demselben das Werkzeug, welches ihn an dem einzigen Menschen rächen sollte, gegen den er unauslöschlichen Haß empfand – an Zehren.

Der Einfall mit der Beschlagnahme der Briefsendungen an und von Zehren auf der Post, den er gelegentlich hingeworfen hatte, wollte ihm nicht aus dem Sinne, und immer versucherischer und deutlicher krystallisirte sich ein Plan um denselben. „Pah!“ sprach er endlich für sich. „Es ist im Grunde ein Lumpenstreich, führt vielleicht nicht einmal zum Ziele. Aber ich muß ihm Beschäftigung geben, damit er den Glauben an mich nicht verliert.“ –

Zur Zeit der ersten Dämmerung saß der Doctor in seiner Wohnung und harrte auf den Besuch Bandmüller’s, der länger ausblieb, als er erwartet hatte. Auf dem Schreibtische lagen ein paar Schriftstücke, mit deren Abfassung er sich während der späten Nachmittagsstunden beschäftigt hatte, und er nahm deren eines zu sich an das offene Fenster und versuchte es zu überlesen. Die Abendluft wehte wohlig herein; draußen lärmten noch ein paar Kinder; die Bewohner der Straße wanderten plaudernd und lachend auf und ab, und drüben im Fenster lag, wie alle Abende, der glatzköpfige, behäbige Rentier und blies die Dampfwolken seiner Pfeife in den stahlgrauen Himmel. Urban legte endlich das Papier weg. „Alles recht schön, teuflisch schön, aber schreiben – schreiben! Ich brauche einen Falschmünzer, der diesem Zeuge da den Schein echter Münze giebt.“ Er wollte sich eben wieder setzen, fuhr aber auf wie ein ertappter Dieb, als er gewahrte, daß sich gleichzeitig ein menschlicher Kopf zum Fenster hereinbog, der ihn angrinste.

Er erkannte Bandmüller.

„Entschuldigen Sie, Herr Doctor! Ich komme doch nicht zu spät? Es ging nicht eher. Wichtige geschäftliche Besorgungen!“

„Bleiben Sie draußen, Herr Bandmüller!“ erwiderte Urban, indem er nach seinem Ueberrocke griff. „Es ist spät geworden, und wir können unsre Angelegenheit auch auf einem Spaziergange abmachen. Ich muß nothwendig noch etwas Luft schöpfen.“

Sie schlugen die Richtung zum Canale hinunter ein, und Bandmüller wagte nach kurzem Schweigen zu fragen, was es denn gäbe.

„Was es giebt? Je nun, es soll mobil gemacht werden, Bandmüller, und es muß schleunigst damit begonnen werden. Wir haben endlich beschlossen, daß demnächst, am Sonntage vor der Kiliansprocession, reine Wirthschaft gemacht werden soll und zwar in Anknüpfung an eine große Empfangsfeierlichkeit, welche dem von Berlin heimkehrenden vom Rath zu Ehren veranstaltet wird. Man wird zunächst sofort eine revolutionäre Stadtregierung constituiren, und außerdem muß alsbald an den Barrikadenbau gegangen werden, damit wir uns nöthigenfalls

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_189.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)