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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Frau herüber, die sich darunter förmlich in sich selbst zusammenbog und am ganzen Leibe wie Espenlaub zitterte.

„Seit wann denn hatten Sie die Pflege übernommen?“

„Seit ich am Abend nach Seiner Excellenz Erkrankung die Frau Baronin“ – sie sprach mit leisem, verächtlichem Achselzucken – „ohnmächtig auf ihren Knieen am Bette gefunden. Seine Excellenz haben damals wahrscheinlich schon delirirt,“ fuhr sie fort, „haben fürchterliche Anklagen und Verwünschungen ausgestoßen,“ und wieder flog der dunkle, unbeschreibliche Blick aus den gleichsam phosphorescirenden Augen – diesmal in unverkennbarer Drohung – zu Blanche hinüber, die unwillkürlich einen hastigen Schritt vorgethan und ihre gefalteten Hände beschwörend der Frau zustreckte.

Welches häusliche Drama spielte sich vor uns ab? Es blieb mir keine Zeit, es ergründen zu wollen. Der Patient war meine Hauptsorge, und trog mich nicht Alles, war jede Hülfe bereits zu spät.

„War damals ärztliche Hülfe sofort herbeigerufen worden?“

„Die Frau Baronin untersagte es anfangs, dann kam Seine Excellenz noch einmal zur klaren Besinnung und untersagte es strenge, obschon die gnädige Frau damals wieder flehentlich darum bat. Nachdem das Delirium wiedergekehrt, hat sie aus eigener Machtvollkommenheit nach den Medicinalräthen Werner und Vogel geschickt.“

„Und die Diagnose der Aerzte?“

„Magenkatarrh oder -Erweichung, glaube ich,“ sagte sie, und wieder zeigte sich jenes unbeschreiblich geringschätzende Achselzucken, und ein verächtliches Lächeln spielte um die vollen, blassen Lippen.

„Und die Symptome, die Sie beobachtet haben?“ fragte ich gespannt. Ich hatte Achtung vor der scharfen Beobachtungsgabe, dem scharfen Auge, der präcisen Ausdrucksweise dieser gescheiten Frau bekommen.

Ein fieberhafter Glanz trat in die harten, bösen Augen, ein jähes Roth in das fade Weiß des etwas fetten Gesichtes, ein sommersprossiges, todtes Weiß, wie es rothes Haar häufig zu begleiten pflegt. Sie bestätigte in prägnanter Knappheit meine grauenhafte Diagnose.

„Kolik und Diarrhöe, dann Erbrechen und Ohnmachten, Verlust des Gedächtnisses, schweres Gehör, glänzende, unstät umherrollende Augen, voller, zuerst schwerer, dann aussetzender Puls und seit heute Morgen jene Lähmungs-Anfälle, von denen ich wußte, daß sie die Vorläufer der allgemeinen Lähmung wären,“ zählte sie mir in chronologischer Reihenfolge auf, und ich wußte jetzt, wovor ich förmlich zurückschauderte.

Konnten die angewandten Hülfsmittel hier noch von Nutzen sein? Ich wollte wenigstens nichts unversucht lassen, soweit die menschlichen Kräfte reichten.

Zu Vomitiven war es zu spät, und auch die Magenspritze erwies sich als nutzlos. Ich gab ihm durch die knirschenden Zähne Citronensaft mit Kaffee, dann Liquor ammonii carbonici caustici ein, und die resolute Frau, mit ihrem gleichsam hellsehenden Instincte und ihren ruhig energischen Handleistungen, war mir dabei ein sehr willkommener Assistent. Ihre kräftigen Arme unterstützten mich tapfer, die erstarrenden Extremitäten durch heftiges Bürsten zu beleben.

Sage ich gleich (ich schreibe keine moderne Sensationsnovelle, die den Leser auf die Folter der Erwartung spannen soll), ich hielt den fürchterlichen Zustand für eine Hyoscyamin-Vergiftung, herbeigeführt durch jenes Alkaloid, oder das besser bekannte Belladonna. Als ein paar Stunden darauf das schlagflußartige Ansehen meines Kranken zunahm, was auf eine Ueberfüllung der Hirngefäße mit Blut schließen ließ, ordnete ich noch einen Aderlaß an.

„Was hatte der Patient am Abend vor seiner Erkrankung genossen?“ fragte ich die schweigsame Krankenpflegerin, die inzwischen wieder in ihren tiefen Sessel gesunken war.

Wieder jene kaum merkliche überhebende Bewegung des Oberkörpers, die klar zeigte, wie sie über die Kurzsichtigkeit meines Berufes urtheilte, und dann ein trockenes:

„Hühnerfricassée.“

„Mit Trüffeln, Morcheln, Champignons?“

„Nichts von alledem! Excellenz verabscheuen jede Art der Pilze. Das Huhn war auf die primitivste Art zubereitet, einfach in eigener Kraft mit Eigelb servirt.“

„Und weiter?“

Der ironische Mund verzog sich noch spöttischer; ihr Ton war noch wegwerfender: „Eine Messerspitze Ramadurkäse, ein Theelöffel voll Champagnergelee, den ich eigenhändig fabricirte, und ein Madeiraglas Chablis ungefähr. – Darüber, Herr Professor, wird die gnädige Frau besser referiren können. Ich nahm das leere Glas nur vom Büffet, das Frau Baronin Excellenz selbst präsentirt haben muß, denn die Dienerschaft war hinausgeschickt.“

Ich sah Blanche’s weiße Hände sich krampfhaft um die Thürklinke schließen, als fürchte sie umzusinken.

„Hat die gnädige Frau das Souper vollständig getheilt?“ setzte ich mein Examen fort.

„Fragen Sie sie selbst! Ich gehöre zu den Domestiken,“ sagte sie schroff und deutete gebieterisch auf Blanche hin, die wie ein Schatten in das anstoßende Gemach zurückwich.

Ich ging ihr nach, und auch ihr Vater folgte mir.

Sie lag zusammengekauert vor dem Sopha und hatte das Gesicht in die Polster gleichsam eingegraben. Der zuckende Oberkörper verrieth ihr innerliches Schluchzen. Das jetzt ganz aufgerollte Haar floß wie ein lichter Königsmantel auf das Parquet herab. Ich mochte die in Schmerz Versunkene nicht gewaltsam aufreißen. „Wer ist die seltsame, um nicht zu sagen unangenehme Person da drinnen?“ fragte ich neugierig den Obersten und deutete mit dem Finger auf das Krankenzimmer.

„Ein Störenfried, der in keinem Hause gut thut und den meine Tochter, wenn sie meinen praktischen Erfahrungen, mehr gehorcht hätte als ihrer gutmüthigen Schwäche, längst würde entfernt haben. Eine anmaßende Person, entfernte arme Verwandte der zweiten Frau meines Schwiegersohns. Sie hat diese zu Tode gepflegt, ist Hausdame bei dem Wittwer gewesen und hat wohl auf eine Stellung Anspruch erhoben, zu der ihr durch meine Tochter jede Hoffnung genommen wurde. Ich glaube kaum, daß sie Blanche diese Enttäuschung verzeihen kann. Mir ist das kalbfleischweiße Gesicht unheimlich und abstoßend, wenn dessen Züge auch beinahe schön genannt werden können. Sibylle Unruh heißt sie. Der Name ‚Sibylle‘ charakterisirt sie vortrefflich, aber ‚Unruh‘ ist eine wahre Persiflage auf ihre steinerne Unbeweglichkeit. Da haben Sie die ganze Charakteristik dieser Frau, die meine gutmüthige kleine Blanche aus reinem Mitleid mit ihrer Verlassenheit nicht fortschicken mochte und die ihr das – ich habe die instinktive Ueberzeugung mit einem stillen beharrlichen Verfolgungshaß vergelten würde, hätte sie nur die Macht dazu. Die Person ist hochmüthig und ränkevoll, glauben Sie mir, und ihre bescheidene Zurückhaltung und Demuth sind nur die Masken eines verbitterten, galligen Charakters.“

Langsam hatte die Baronin sich auf den Knieen erhoben; das wirre Haar hatte sie aus dem verweinten Antlitz geschüttelt, und jetzt näherte sie sich uns mit jener, ich möchte sagen, zutraulichen Kindlichkeit, die sie mir einst so reizend erscheinen ließ. Diese kätzchenartig anschmiegende Schutzbedürftigkeit stand der jungen Frau entzückend. Jede Bewegung, jeder Aufblick aus den großen grauen Augen war ein Anruf unserer Hülfe. Wie ein müdes, zum Tode erschrockenes Kind lehnte sie den blonden Kopf an ihres Vaters Schultern und sah angstvoll von Einem zum Andern.

„Papa, er wird nicht sterben; sage mir, daß er nicht sterben wird!“ jammerte sie mit gerungenen Händen, und als wir stumm blieben, kam wieder jener verhaltene Ton – ich kann ihn nur als verzweifeltes Aechzen bezeichnen – aus ihrem offenen, nach Luft ringenden Munde. Das junge Weib war mir ein Räthsel.

„Gnädige Frau –“

„Blanche!“ unterbrach sie mich, ohne aufzublicken.

„Blanche,“ wiederholte ich mechanisch – der Augenblick war viel zu ernst zu Aeußerlichkeiten und das gute, liebe Kind mir, dem alten Hagestolz, viel zu sehr an’s Herz gewachsen, als daß ich diese Form der Anrede nicht natürlich gefunden hätte. „Blanche, Sie müssen mir von Anfang an berichten, wie Alles war und kam – hören Sie?“ Und ich nahm ihren blonden Kopf von ihres Vaters Schulter und zwang sie, mich anzusehen, ihre Augen aber wichen den meinigen scheu aus; die Todesangst stand deutlich in dem geisterhaften Gesicht, und Schweißtropfen perlten auf der Stirn. Selbst das Haar schien durchtränkt davon.

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